70-Landin-Das Landiner Neunerlei 01.12.2022

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Wenn man das Weihnachtsfest 2022 im Erzgebirge erlebt, kann man dort in manchen Restaurants zum Heiligen Abend und zum Weihnachtsfest ein Essen bestellen, das sich „Neunerlei“ nennt und auf einem Spezialteller serviert wird. In Landin kannte man das Gericht auch. Es kam mit den Flüchtlingen in das Dorf. Der Krieg 1939 – 1945, den eine verbrecherische Mörderbande den Deutschen auferlegte, brachte viel Not und Tod über die Menschen in ganz Europa. Nicht nur dass über sechs Millionen Juden fabrikmäßig getötet wurden, nein viele Menschen mussten ihre Heimat und ihren bescheidenen Wohlstand verlassen und kamen bettelarm in ein ihnen fremdes Land. Nur die Sprache verband die Menschen miteinander. So geschah es auch der Familie Josef Novotny, die aus dem Sudetenland 1944 nach Landin kamen. Seine Frau Maria und die fünf Kinder waren mit einem Handwagen nach Landin gekommen und wohnten im Französischen Soldatenhaus mit vielen anderen Flüchtlingen. Der Vater hatte bald wieder eine gute Arbeit im Kreisgericht in Rathenow gefunden und die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder und half auch in der Ernte auf den Feldern der Bauern mit. Ihre drei Töchter hießen Eva, Hana und Jana und die zwei Jungen Lukas und Tomas. Als es nach einigen Jahren doch wieder etwas zu essen gab, versuchte die streng katholische Familie ihre alten Lebensgewohnheiten wieder aufzunehmen und Maria machte sich große Mühe die Tradition des weihnachtlichen Neunerlei aus ihrer alten Heimat in Landin wieder lebendig werden zu lassen. So kam das Neunerlei auch nach Landin. Die Neun steht dabei für die Dreimaldrei und will auf die Heilige Dreifaltigkeit, Gott-Vater, den Sohn Jesus Christus und den Heiligen Geist hinweisen. Das Neunerlei, was zu Weihnachten im Sudetenland, im Egerland, im Erzgebirge, in Franken und teilweise auch in Polen gegessen wird, ist eng verbunden mit der christlichen Religion. Dieses weihnachtliche Essen bestand aus Bratwurst, Kartoffelklößen, brauner Butter und Sauerkraut. Als Nachtisch gab es Sellerie, dann folgte eine Linsensuppe und zum Schluss Heidelbeerkompott. Brot und Salz stand natürlich immer auf dem Tisch. Die einzelnen Speisen hatten dabei eine Bedeutung und sollten Segen für das Jahr bringen. Dabei entwickelten sich von Land zu Land ganz viele Variationen, die in den Familien weiterlebten.

1. Die Bratwurst sollte den Menschen Kraft und Herzlichkeit geben.

 

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2. Das Sauerkraut sollte das Leben nicht zu sauer werden lassen. 

 

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3. Die zerlassene Butter bedeutete Gesundheit.

 

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4. Bei den Reichen gab es eine Gans, ein Kaninchen (Kuhhase) oder Schweinebraten, damit man im neuen Jahr Glück habe.

 

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5. Kartoffelklöße oder Karpfen oder Hering bedeutete immer einen vollen Geldbeutel.

 

 

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6. Sellerie stand für Kindersegen und Frchtbarkeit.

 

 

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7. Linsensuppe oder Graupen waren das Symbol, dass auch das Kleingeld nicht ausgehen würde.

 

 

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8. Heidelbeerkompott bedeute Freude im Leben und auch die süßen Seiten des Lebens.

 

 

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9. Semmelmilch, damit man nicht erkrankt und keine Migräne bekommt.

 

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Brot und Salz wurden nach dem Essen in das Tischtuch eingewickelt, was die Garantie dafür sein sollte, dass im kommenden Jahr Brot und Salz nie ausgehen werden. Bei manchen Familien wurde auch statt Semmelmilch Buttermilch serviert. Und andere aßen Pilze und rote Rüben, was Glück, Freude und Getreidesegen bringen sollte. Die Mutter stand schon früh am Morgen auf, um alle Speisen vorzubereiten. Die Klöße wurden aus hälftig rohen und gekochten Kartoffeln gemacht.
Die Familie hatte inzwischen auch einen kleinen Garten, wo Weißkohl wuchs, der nach der Ernte zu Sauerkraut verarbeitet wurde, wie man das aus dem Sudetenland kannte. Das Sauerkraut musste dann das ganze Jahr über bis zur nächsten Ernte reichen und die Mutter betonte immer, dass es gesund sei und das war ja auch richtig, denn das Vitamin C kam überwiegend aus dem Kohl.
Sellerie und Kartoffeln hatte sie auch aus eigener Ernte und die Heidelbeeren hatte sie selbst mit den Kindern gesammelt und eingeweckt. Die Wälder um Landin waren überall mit Heidelbeersträuchern durchsetzt. Nach dem Heiligabendgottesdienst in Landin, den sie natürlich jedes Jahr besuchten, denn der Weg zur nächsten Katholischen Kirche in Rathenow war viel zu weit, gab es für die ganze Familie dieses Festessen. Die Kinder freuten sich das ganze Jahr schon darauf, denn nach dem Krieg war es nicht so üppig mit den Lebensmitteln und Hunger kannte die ganze Familie.
Am Heiligabend konnten die Kinder so viel essen, wie sie wollten. Es blieben aber immer noch Reste übrig, die dann am ersten Weihnachtstag gegessen wurden. Bei den reichen Menschen gab es auch Spezailteller für das Neunerlei, auf dem alle neun Speisen serviert wurden.  Als die Kinder erwachsen waren und in Rathenow, Brandenburg, Berlin und Neuruppin Wurzeln geschlagen hatten, blieb das Landiner Neunerlei doch in den Familien erhalten und man erinnerte sich gern an die emsige Mutter Maria, die schon lange vor dem Christfest mit den Vorbereitungen für dieses Essen angefangen hatte. Die Buttermarken wurden dafür aufgespart, um dann am Heiligabend endlich mal in Butter schwelgen zu können. Die neun Gerichte standen natürlich auch für Segenswünsche, die die Menschen für das kommende Jahr von Gott erbaten und durch die Verknüpfung mit der Heiligen Dreifaltigkeit hatte man auch die Verbindung zu Gott in dreifacher Weise hergestellt. Heute kennt man das Neunerlei im Land Brandenburg kaum noch.

 

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 01.12.2022