Meine Klavierlehrerin Hanna Findert 28.04.2022

Hanna Findert - Staatlich geprüfte Klavierlehrerin, das stand auf einem Schild am Eingang des Hauses Schleusenstraße Nr. 4. In meiner Heimatstadt Rathenow war Frau Findert eine bekannte Persönlichkeit. Mein Musiklehrer an der Erweiterten Oberschule, Hermann Tressel, ein nicht weniger bekannter Rathenower, hat mir zum Beispiel erzählt, dass er im Zusammenhang mit seinem Musiklehrerstudium in Berlin auch Unterricht bei Frau Findert hatte. Frau Findert wurde am 17.03.1888 geboren und ist am 04.09.1970 verstorben. Das Bild zeigt sie - unter ihrem eigenen Porträt - im Jahr 1968.

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Zu meiner Klavierlehrerin kam ich als kleiner Junge. Es muss im Schuljahr 1956/57 gewesen sein, ich war in der zweiten Klasse. Meine Mutter, Schneidermeisterin, geprägt von einem bürgerlichen Bildungsideal, in dem Klavierspiel gewissermaßen zur Grundausstattung eines kultivierten Menschen gehört, hatte unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit ein Klavier gekauft und selbst bei Frau Findert Unterricht genommen. Die harte Arbeit in ihrem „Atelier“ (eine Bezeichnung von Frau Findert), wo sie viele Lehrlinge ausbildete und Gesellen beschäftigte, ließ ihr jedoch keine Kraft mehr zum Üben. Regelmäßig fielen ihr am Klavier die Augen zu. Auch mein Bruder Peter hat sich eine Zeit lang als Schüler von Frau Findert bemüht. In seinem autobiografischen Buch „Eigenartig angepasst“ berichtet er darüber.

Zu Weihnachten besuchte uns regelmäßig eine Verwandte, „Tante Hilde“. Sie konnte Klavier spielen. Fast alle Weihnachtslieder aus dem Album wurden gespielt und gesungen, selbst die Nachbarschaft war hoch erfreut. Vielleicht, so die Hoffnung, könnte ja eines Tages auch ich zu Weihnachten spielen.

 

Frau Findert war sehr freundlich. Der Unterricht fand in ihrem Musikzimmer statt, anfangs am Klavier, später durfte ich am Flügel spielen. Auch Vorspiele gab es hier. Die Schüler konnten sich beweisen – vor den anderen Schülern und vor den Eltern. Oft waren zwei Freundinnen der Lehrerin dabei.
Einen kleinen Einblick in den Anfangsunterricht geben die handschriftlichen Eintragungen meiner Lehrerin in inzwischen vergilbten Noten. Das „Andante“ ist in der „Sonatinen Vorstufe“ enthalten, ein Klavier-Unterrichtswerk, das auch heute noch vom Peters-Verlag angeboten wird.

 

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Die Eintragungen zeugen von einer komplexen Arbeit am Stück. Sie beziehen sich auf das Tempo, auf den Rhythmus (den ich ohne die Achtel mit „und“ mitzuzählen offenbar nicht sofort erfasst habe), auf richtige Tonhöhen, einen effektiven Fingersatz, auf die Artikulation (insbesondere auf die Bindungen) und auf grundlegende harmonische Zusammenhänge (Tonika, Dominante und Dominantseptakkord).

Die Vielschichtigkeit des Unterrichts ist damit aber noch nicht erfasst. Zur Ausbildung gehörte eine Körperhaltung, die einerseits die Lockerheit und Unverkrampftheit des gesamten Spielapparates garantiert und andererseits die notwendige und wohlbemessene Spannung in den Muskelgruppen bereitstellt, die für die Tonbildung verantwortlich sind. In besonderer Weise hat Frau Findert auf eine optimale Handhaltung und die Kräftigung der Finger geachtet. Von Anfang an habe ich Übungen kennengelernt, die der Beweglichkeit und Kräftigung der Finger dienen, und die zum Teil auch ohne Instrument ausgeführt werden können. Zur Ausbildung gehörte - bildhaft gesprochen - der „Seele“ des Musikstücks nachzuspüren und sie in meiner Interpretation und mit meinen Mitteln, so gut es eben ging, hörbar zu machen. Frau Findert hat mir geholfen, den Willen und die Fähigkeit zu entwickeln, mich diesen Anforderungen zu stellen, Schwierigkeiten zu überwinden und mich am Klavierspiel zu erfreuen. Klavierunterricht in diesem Sinne, in dem Sinne wie Frau Findert ihn gestaltet hat, ist Menschenbildung. Mir hat die Unterrichtssituation gefallen. Rückschauend bin ich sehr dankbar, dass mir in frühen Jahren diese Bildungsmöglichkeit gegeben wurde.

Natürlich bedarf es auch der Bestätigung. Ich habe sie im Klavierunterricht und in der Familie erhalten. Ich erinnere mich eines Moments, in dem ich spontan ausrief: „Das klingt aber schön.“ Meine Großmutter habe ich aufgefordert, sich die Stelle anzuhören: „Übe nur weiter, dann wirst du noch viele schöne Stellen entdecken!“ Irgendwie habe ich das nie vergessen.

Besonders beflügelt haben mich öffentliche Auftritte. Herr Tressel hat mir Gelegenheit gegeben, zu den jährlichen Abiturfeiern im Blauen Saal des Kulturhauses zu spielen. Frau Findert hat mit mir darauf hingearbeitet.

 

Als die Schulzeit zu Ende ging, war der Entschluss, Musiklehrer zu werden, fast schon naheliegend. Wesentlich hat dazu auch das Vorbild meines Musiklehrers beigetragen. Ich habe bei Herrn Tressel viel gelernt und ich habe mit Freude in seinem Chor gesungen. Manchmal hat er mich mit Hilfslehreraufgaben betraut. Ich wurde akzeptiert und fand Gefallen.

Auf die Aufnahmeprüfung an der Universität Greifswald hat mich Frau Findert vorbereitet. Es war ein Bravourstück, die Toccata von Aram Chatschaturjan. Sie hat einen innig singenden Mittelteil, ist mit ungestüm vorwärtsdrängenden Passagen, rasendem Tempo und gewaltiger Klangentfaltung aber durchaus auf einen virtuosen Effekt gerichtet. Für den jugendlichen Klavierspieler und vielleicht auch für die Aufnahmeprüfung gerade richtig.
Das Bild zeigt den Beginn des ruhigen Mittelteils der Toccata.

 

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Ich habe die Prüfung bestanden, im Bereich Klavier vielleicht sogar mit Bravour. Zu meinem großen Glück fand ich an der Universität einen Klavierlehrer, der nahtlos an den Unterricht von Frau Findert anknüpfte. Das Studium konnte ich gut und sehr gut abschließen, im Mittelpunkt stand für mich aber weiterhin das Klavier. Auch in Greifswald habe ich viel öffentlich gespielt.

Bis zu ihrem Tod ist mein Kontakt zu Frau Findert nie abgerissen. Könnte sie noch leben, ich wäre regelmäßig zum Gespräch bei ihr. Ich würde über meine Arbeit berichten und hätte das Gefühl, ihr Rechenschaft geben zu müssen. Dass ich auf die Musik gekommen bin, habe ich wesentlich ihr zu verdanken. Für fast alles, was ich in der Musik gemacht habe, hat sie Grundlagen gelegt. Und auch auf Tätigkeiten außerhalb der Musik hat der Klavierunterricht ausgestrahlt.

 

Einige Anmerkungen in diesem Zusammenhang:

 

Es geht um die Musik. Oder: Warum klettere ich?

 

Im Klavierunterricht ging es um das jeweils zu erarbeitende Klavierstück – z. B. um das Andante aus der Sonatinen Vorstufe. Ich habe das Stück geübt und hatte Freude an der Musik. Manche im Unterricht behandelten Stücke wurden öffentlich vorgespielt, was dann eventuell auch mit einer öffentlichen Anerkennung verbunden war, manche aber nicht – so auch das Andante. Das war aber kein Problem: Es ging um die Musik.

Im spanischen Melide habe ich im Sommer 2021 die folgende Szene auf einem Spielplatz beobachtet: Ein kleiner Junge, angefeuert vom Vater, überwindet schnell und gewandt ein Klettergerüst. Der Vater filmt die Situation mit dem Handy. Im Anschluss sehen sich Vater und Sohn das Video mehrmals an. Irgendetwas war wohl nicht ganz gelungen. Es gab eine weitere Kletterpartie mit Video. Nach ausführlicher Prüfung wurde das zweite Video für gut befunden. Vater und Sohn haben den Spielplatz verlassen.

Ohne gefilmt zu werden, hat es den Jungen nicht auf das Klettergerüst gezogen. Vielleicht war es ja nur in dieser Situation so. Denkbar ist aber auch: Es geht eigentlich gar nicht um das Klettern (oder um eine andere Tätigkeit), es geht um eine durch das Klettern (oder eine andere Tätigkeit) zu erreichende Wirkung auf Andere. Vor allem geht es um Anerkennung. Eine problematische Situation?

 

Der Ton macht die Musik.

 

Ein Weihnachtsfest, Tante Hilde ist wieder im Haus, ich war im Klavierunterricht nicht mehr ganz am Anfang und konnte auch schon Weihnachtslieder spielen. Tante Hilde: „Er hat einen guten Anschlag. Aber das ist das ja gerade!“ Gemeint war: „Das ist das ja gerade, was den Klavierunterricht bei Frau Findert ausmacht“. Was Anschlag ist, war mir aus dem Unterricht bekannt. Mir war nicht bewusst, einen „guten Anschlag“ zu haben. Vielmehr wusste ich, dass auf diesem Gebiet noch viel zu arbeiten ist.

Ein etwas abgegriffenes Bonmot besagt: Klavierspiel bedeutet, die richtige Taste zur richtigen Zeit zu drücken. Das ist nicht ganz falsch. Bei technisch anspruchsvoller Musik ist es durchaus nicht einfach, die richtige Taste bzw. die richtigen Tasten - evtl. noch in schnellem Tempo - zur richtigen Zeit zu drücken. Auch die in Noten angegebene Lautstärke und Artikulation mag dabei noch berücksichtigt sein. Und doch, von Musik sollte man bis hier hin noch gar nicht sprechen.

Normalerweise verwende ich den Begriff „Seele“ nur mit größter Vorsicht. In der Musik hat er aber auch eine sehr konkrete Bedeutung. Eine Geige gewinnt ihren wunderbaren Klang erst dann, wenn zwischen Boden und Decke ein Stimmstock eingesetzt wird, der den Geigenkörper in eine dauerhafte Spannung versetzt. Der Stimmstock wird in der Alltagssprache „Seele“ genannt. Ohne „Seele“ klingt auch eine Geige von Antonio Stradivari fast wie eine leere Zigarrenkiste.

Es ist nur eine ungefähre Annäherung, aber man könnte sagen, die Seele des Klavierspiels liegt im Anschlag. Die ausgeklügelte und über Jahrhunderte immer weiter verfeinerte Mechanik des Klaviers überträgt auch feinste Differenzierungen beim Niederdrücken der Tasten - beim Anschlag also - auf die Saiten. Auf diese Weise wird die Individualität des Klavierspielers hörbar. Auf diese Weise wird die Interpretation eines Klavierstücks zu einer mit dem Interpreten untrennbar verbundenen musikalischen Einheit.

Die Entwicklung eines wandlungsfähigen Anschlags im Dienste der Interpretation bildete einen Kern des Klavierunterrichts von Frau Findert. Die technische Beherrschung des Stücks war auf dieser Ebene dann nur noch notwendige Voraussetzung.

 

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Felix Mendelssohn Bartholdy hat den Unterschied zwischen technischer Beherrschung des Klaviers und „seelenvollem“ Spiel einmal treffend und drastisch beschrieben. Es ging um das Klavierspiel seiner Schwester Fanny:

 

Liebe Mutter

… Das ennüyirt [ärgert – WK] mich aber, daß Fanny sagt, die neue Clavier-Schule wüchse ihr über den Kopf … aber das ist ja gar nicht an dem, sie spielt wohl alle die kleinen Kerls, wie Döhler, in den Sack, der kann ein Paar Variationen und Kunstgriffe gut machen und dann ists gleich schrecklich langweilig, und das ists niemals, wenn Fanny Clavier spielt, da ist noch was anders drin, als Kunstgriffe. Ein ander Ding ist es mit Thalberg und Henselt, die wirklich Virtuosen sein sollen, in der Art von Liszt, (der sie alle todt spielt); und dennoch macht alles das eben nicht mehr, als etwa Kalkbrenner zu seiner Zeit, und geht noch während ihres Lebens vorüber, wenn nicht ein bischen Geist dabei ist, und Leben und was Bessres als Finger. Das hat aber Fanny, drum braucht sie sich vor keinem von alle denen zu fürchten … Ich meines Theils glaube, daß Chopin von alle denen bei weitem der Geistreichste ist, obwohl Liszts Finger noch toller und gelenkiger sind, als die seinigen. …

 

… Lehrer sein dagegen sehr

 

Lehrer sein ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Die Situation des Einzelunterrichts am Klavier scheint auf den ersten Blick einfach. Tatsächlich sind es aber sehr unterschiedliche Schüler, die an das Klavierspiel herangeführt werden sollen. Unter Berücksichtigung des Alters, der musikalischen Vorbildung, der anatomischen Voraussetzungen – z. B. in den Händen, unter Berücksichtigung der Übungsmöglichkeiten, der Gestimmtheit und vieler anderer Aspekte muss für jeden Schüler ein eigenes, individuell zugeschnittenes Programm erarbeitet werden. Für den Erfolg des Unterrichts wesentlich sind Fleiß und Ausdauer beim Üben. Vom Lehrer kann das oft nur in begrenztem Maße beeinflusst werden. - Im Bild der Klavierschüler Wolfgang mit seinen Eltern.

 

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Ich habe in der Zeit meines Unterrichts bei Frau Findert nie aufgehört zu üben. Manchmal war ich aber auch ziemlich faul. Frau Findert hat in einer solchen Situation niemals empfindlich oder tadelnd reagiert. Wie hätte auf diese Weise auch Freude und neue Anstrengung um der Musik willen geweckt werden können. Ihre Freundlichkeit, ihre Anteilnahme am Leben des Schülers, ihr Glaube an seine Entwicklung waren unerschütterlich. Später habe ich selbst Klavier unterrichtet, z. B. am Institut für Lehrerbildung in Rostock. Wer da als Vorbild vor meinen Augen stand, das braucht nicht mehr gesagt zu werden.

 

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Die Quittung vom 3. Juli 1959 verweist auf eine andere Seite des Lehrerseins. 4 DM, das war das Honorar für eine Klavierstunde (bis 1964 wurde die in der DDR herausgegebene Währung als Deutsche Mark bezeichnet). Weshalb auf der Quittung in Ziffern 12 und in Worten Sechszehn steht, kann ich nicht erklären. Offensichtlich liegt ein Irrtum vor.

Es waren andere Zeiten. Das monatliche Durchschnittseinkommen in der DDR lag 1960 bei 555,- DM. Reich werden konnte man als Klavierlehrerin wahrscheinlich nicht. Ich erinnere mich, wie Frau Findert später einmal unter Angabe mehrerer Gründe sich fast dafür entschuldigte, dass sie das Honorar geringfügig anheben musste.

 

Als mein Berufswunsch feststand, hat Frau Findert davon gesprochen, dass der Umgang mit Musik eine „sehr edle“ Tätigkeit sei. Ich habe das nicht hinterfragt. Aus dem Sinn ist es mir nie gegangen. Offensichtlich hat sie auch ihre eigene Arbeit so verstanden.

Was könnte gemeint sein?

Musik gehört zum Wertvollsten der menschlichen Kultur. Keineswegs geht es dabei nur um die früher so bezeichnete „Kunstmusik“. Es ist ein Privileg, beruflich mit Musik umzugehen. Und es ist ein Privileg, musikpädagogisch tätig zu sein.

 

Über 50 Jahre später wird dieses Selbstverständnis allerdings kaum noch genährt. Nach dem sogenannten „PISA-Schock“ im Jahr 2001 hat sich die Schulpolitik nicht um die Entwicklung der Allgemeinbildung insgesamt bemüht, sondern nur um die Fächer, die im PISA-Test bewertet werden. Musik und andere für die Allgemeinbildung unverzichtbare Bereiche gehören nicht dazu. Die negativen Auswirkungen sind vielfach und deutlich spürbar. Die Vernachlässigung einer umfassenden allgemeinen Bildung schadet letztlich auch den sogenannten MINT-Fächern, die eigentlich gefördert werden sollen: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

 

Wie eng Frau Findert mit ihren Schülern innerlich verbunden war, wurde in fast kurioser Weise immer wieder sichtbar. Beim Vorspiel, viele Schüler, Eltern und ihre Freundinnen sind dabei, fiebert sie mit ihren Schülern. Sie sitzt im Sessel - nicht am Klavier, aber ihre Finger spielen das jeweilige Stück mit. Es ist nicht denkbar, dass sie das ungewöhnliche Verhalten nicht selbst bemerkt hat. Es ist aber denkbar, dass sie das nicht nur innerliche Mitfühlen mit ihren Schüler gar nicht unterdrücken konnte.

 

Bewundernswert ist, wie Frau Findert bis in das hohe Alter hinein neue musikalische Entwicklungen aufgenommen und für ihrer Arbeit genutzt hat. Sie war auf der Höhe der Zeit. Die Möglichkeiten dazu waren aus heutiger Sicht sehr beschränkt. Sie hörte Konzerte im Radio (das Fernsehen war noch nicht verbreitet) und sie hat gelesen. Eine Schülerin hat nach dem Wechsel zu einem neuen Klavierlehrer dessen Frage wiedergegeben: „Sie haben wohl eine sehr junge Klavierlehrerin gehabt?“ - „Nein!“ (Frau Findert war zu der Zeit schon über 80.)

 

Stoisch leben

 

Ich kenne Frau Findert nur schwer gehbehindert. Eines Tages hat sich eine Erkrankung in den Hüftgelenken eingestellt. Vielleicht könnte das heute operiert werden. Sie aber hat die sehr schmerzhafte Krankheit bis zum Tod durchlitten und konnte sich nur mühsam mit Gehhilfen bewegen. An der Klingel neben ihrer Tür gab es deshalb auch einen Zettel: „Nach dem Klingeln bitte eintreten, ohne das Öffnen der Tür abzuwarten.“ Die Krankheit ereilte ausgerechnet sie, die Sport getrieben und gesund gelebt hatte. „Du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ich früher eine gute Eisläuferin war.“ Nein, das konnte ich nicht. Erst spät habe ich erfahren, dass Frau Findert zudem auf einem Ohr fast taub war.

Niemals habe ich ein Wort der Klage gehört oder Anzeichen von Selbstmitleid gespürt. Sie konnte sachlich über ihre Krankheit sprechen, blieb aber immer beherrscht und gleichmütig.

 

Frl. Findert

 

Die Zeit, in der junge, unverheiratete Frauen als Fräulein angesprochen wurden, ist längst vorbei.

In den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war diese Anrede aber noch für alle unverheirateten Frauen üblich – unabhängig vom Alter. Da Frau Findert nicht verheiratet war, wurde sie auch mit über 80 Jahren noch mit Fräulein Findert angesprochen.

Nach heutigem Verständnis ist das ein absolutes „No-Go“. Sie hat die in dieser Anrede liegende Abwertung durchaus empfunden.

Irgendwann hat es sich ergeben, dass ich einen Brief an Frau Findert schicken musste. Um mir die Sache zu erleichtern, schrieb sie mir ein an sie selbst adressiertes Kuvert vor. Das war aber nur eine vorgeschobene Begründung. Der eigentliche Grund war auf dem Umschlag zu lesen. Dort stand als Adressatin „Frau Hanna Findert“. Ich habe das wohl bemerkt. Es gab aber keinen mir bekannten Menschen, der von der damals üblichen Fräulein-Anrede abgewichen wäre. Mir war auch die Tragweite dessen, was mit dieser Anrede eigentlich verbunden war, nicht bewusst. Ich schäme mich, dass ich den Wink mit dem Zaunpfahl nicht beachtet habe. Noch heute möchte ich Abbitte leisten.

 

Erinnerungsstücke, Noten

 

Eine Kostbarkeit ist in meinem Bücherregal: Das Buch über Aram Chatschaturjan, den Komponisten meiner Toccata, hat mir Frau Findert geschenkt.

 

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Am 23.10.1970 wurde Frau Findert auf dem evangelischen Friedhof auf dem Rathenower Weinberg beigesetzt. Ihr Bruder, Heinz Findert, der seine Schwester immer tatkräftig unterstützte, hat mir bei dem anschließenden Beisammensein im Musikzimmer zwei Dinge übergeben.

 

Das Beethoven-Bild im Goldrahmen hatte bei Frau Findert einen Ehrenplatz über dem Flügel.

 

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Auf der Rückseite gibt es eine Widmung: Ihrer lieben Enkelin Johanna zu ihrem / 25jährigen Geburtstage gewidmet / von ihrer Großmutter / Pauline Manthey geb. Lehmann / zur Zeit Rathenow d. 30ten April / 1913.

 

Außerdem habe ich den riesigen Notenbestand meiner Klavierlehrerin übernommen. Ich war Student im vierten Jahr. Meine Vorstellungen vom künftigen Berufsleben waren noch verschwommen. Ich glaubte, dass ich das alles, oder doch einen Teil davon, noch spielen könnte. Die Illusion ist bald verflogen. Die Arbeit hat mich gefordert, und sie bestand bei weitem nicht nur aus Klavierspiel.

Einige Noten sind bis heute bei mir, andere verschenkt. Den größten Teil der Noten habe ich im Jahr 2012 an die Bibliothek des Instituts für Musikwissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin übergeben.

 

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Spurensuche

 

Als ich 1967 zum Studium an die Universität Greifswald ging, hat mir Frau Findert einen kleinen Zettel für den künftigen Klavierlehrer mitgegeben. Darauf stand, wer ihre Lehrer am Stern´schen Konservatorium in Berlin waren. Den Zettel habe ich ausgehändigt, die Angaben aber nicht notiert. Das Archiv des ehemaligen Stern´schen Konservatoriums gehört heute zur Universität der Künste Berlin. Dort ist zu finden:

 

Liste der Schülerinnen und Schüler des Stern´schen Konservatoriums (1850-1936)

Buchstaben C bis F, Seite 87

Findert, Johanna

Studienbeginn: 01.09.1907

Klavier, Seminar (Hinze-Reinhold) in den Studienjahren 1907/08 und 1908/09

Theorie (Klatte) im Studienjahr 1915/16

Quellen: Jahresbericht 1907/08, Jahresbericht 1908/09, Jahresbericht 1915/16

 

Die angegebenen Lehrer sind:
Prof. Dr. Bruno Hinze-Reinhold, 1877-1964, Pianist und Hochschullehrer

Bruno Hinze-Reinhold hat ab 1901 am Stern´schen Konservatorium in Berlin Klavier unterrichtet. Ab 1913 unterrichtete er in Weimar. Unter seiner Leitung wurde die Musikhochschule Weimar gegründet, deren Leiter er bis 1933 war. 1947 kehrte er an die Hochschule Weimar zurück.

Hinze-Reinhold war ein bedeutender Liszt-Interpret und widmete sich in besonderer Weise auch den Werken von Schubert, Schumann und Chopin.

 

Prof. Wilhelm Klatte, 1870-1930, Musiktheoretiker, Musikpädagoge, Musikjournalist und Dirigent

Wilhelm Klatte hat ab 1904 am Stern´schen Konservatorium Musiktheorie unterrichtet.

 

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Dr. Wolfgang Kurth

November 2022

 

Fotos: Peter Kurth