Biografie von Elfriede Müller

Biografie von Elfriede Müller

Verfasst von Hans Müller

Elfriede Müller, geborene Sprotte, wurde am 11. April 1906 als die Zweite der drei Töchter des Stadtbaurates Friedrich Sprotte in Kolberg/Ostsee geboren. Sie verbrachte die ersten Jahre ihrer Kindheit in Kolberg, bis ihr Vater sich mit Erfolg um die Stelle des Stadtbaurates in Rathenow bewarb und dieses Amt 1909 antrat. Seine Familie folgte ihm zwei Jahre später nach und bezog eine größere Wohnung in dem Gebäude der Maschinenfabrik Richter in der Bahnhofstraße.

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Vater Johann Friedrich Sprotte
Rathenower Baustadtrat

Elfriede Sprotte verlebte dort ihre Jugendjahre. Wie ihre Schwestern besuchte sie das Lyzeum in der Schleusenstraße, dessen Gebäude ihr Vater ungefähr gerade rechtzeitig zu ihrem Schuleintritt architektonisch entworfen hatte und das unter seiner Leitung in den Jahren 1912/13 erbaut wurde. Elfriede Sprotte hat während ihrer Schulzeit manche Freundinnen und Freunde in Rathenow gefunden, an die sie sich zurück erinnerte, als sie 1990/91 nach vielen Jahrzehnten Rathenow wieder besuchen konnte und dabei auch andächtig das erhalten gebliebene Gebäude des Lyzeums besichtigte (heute Oberschule „J.H.A. Duncker“).

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Ehemaliges Lyzeum
Oberschule Johann Heinrich August Duncker

Die Erziehung und Ausbildung der Töchter des Stadtbaurates Sprotte lag in der Hand seiner Frau, die der Familie Kröning in Kolberg entstammte. Ihr Vater hatte ein ursprünglich in Kolberg als Delikatessengeschäft betriebenes Unternehmen zu einem lokalen Bankhaus entwickelt, von daher hatte Mutter Sprotte eine klare Vorstellung von der Bedeutung einer guten Ausbildung und der Fähigkeit zur wirtschaftlichen Haushaltsführung. Dank dieser Erziehung ist es Elfriede Sprotte trotz schwerer Rückschläge in ihrem Leben immer wieder gelungen, einen soliden Hausstand einzurichten.

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Familie Sprotte in einer Gartenlaube
in der Bahnhofstraße in Rathenow,
Elfriede Sprotte sitzt links (etwa 1914)

1918 wurde die Familie Sprotte von einem einschneidenden Schicksalsschlag betroffen, als Mutter Sprotte plötzlich schwer erkrankte und nach wenigen Tagen starb. Für die noch junge Elfriede Sprotte und ihre beiden Schwestern bedeutete das die erste dramatische Wendung in ihrem Lebenslauf, die sie zu bestehen hatten. Vater Sprotte war in dieser Zeit als Vorsitzender der „Kriegskommission“ für die Versorgung der Stadt Rathenow verantwortlich und fand nur wenig Zeit, sich seinen Kindern widmen zu können. Er engagierte eine „Hausdame“, die er schließlich heiratete. Diese Stiefmutter entledigte sich der ihr zufallenden Erziehungsaufgaben, indem sie die Kinder streng behandelte und schließlich versuchte, sie auf möglichst billige Weise in einer Ausbildung unter zu bringen. Anstatt ihr ein Studium zu ermöglichen, wie es die Mutter ihr zugedacht hatte, wurde für Elfriede eine Stellung zum Erlernen des Haushalts gesucht. Im Frühjahr 1924 trat sie eine Kochlehre in dem Katte’schen Rittergut in Wust an. Dort wurde aber das Gesinde noch als rechtlos angesehen, womit sich Elfriede nach einem unangenehmen Vorfall nicht abfinden wollte. Sie packte ihre Sachen und fuhr nach Hause. Ihr Vater rechtfertigte ihre spontane Reaktion mit der Bemerkung „Das ist das Gescheiteste, was du getan hast, dass du fortgegangen bist.“

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Elfriede Sprotte als Schülerin
in der Schule für Gartenbau
in Wittstock/Dosse (1928)

Im Juli 1924 trat sie eine neue Stellung auf dem Hof Hundorf in Mecklenburg an. In Hundorf musste fleißig gearbeitet werden. In einer Umgebung, in der alle Mitglieder der Hofgemeinschaft menschlich geachtet wurden, erwarb sie sich gründliche praktische Kenntnisse in der Hauswirtschaft, von denen sie ihr Leben lang zehrte.

Um einen regelrechten Beruf zu erlernen, entschloss sich Elfriede anschließend zu einer Ausbildung als Gärtnerin in der Gartenbauschule in Wittstock/Dosse, die sie im Frühjahr 1927 aufnahm. Im Juli 1929 hat sie diese Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen. Es folgte eine reguläre Stellung in einem Obstgut in der Umgebung von Nürnberg.

In dieser Zeit lernte sie durch eine Korrespondenz ihren späteren Ehemann Karl Müller kennen, der einen kleinen Hof in Briesnitz im Glatzer Bergland in Schlesien bewirtschaftete. Die grundständige Tätigkeit in der Landwirtshaft sagte ihr zu, während ihr zukünftiger Mann von ihrer Weltoffenheit angetan war.

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Der Müller’sche Hof im Glatzer Bergland
in Schlesien (1934)

Sie beschlossen, auf dem Hof als Nebenerwerbsquelle eine moderne Hühnerhaltung einzurichten. Elfriede bereitete sich systematisch darauf vor, indem sie einen achtwöchigen Kurs in einem Lehrbetrieb für Geflügelwirtshaft absolvierte. Damit offenbarte sie eine besondere Eigenschaft: Wenn sie vor einem neuen Aufgabengebiet stand, dann bemühte sie sich stets, sich systematisch die dafür nötigen Kenntnisse anzueignen. Dieses Bestreben wurde ihr in ihrem weiteren Leben noch mehrmals abgefordert und immer wieder hat sie sich den neuen Erfordernissen gestellt.

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Elfriede Müller mit ihren
beiden Söhnen Fritz und Hans (1934)

Im Frühjahr 1930 fand die Hochzeit statt. Die geplante Geflügelzucht wurde eingerichtet. Die Erlöse waren anfangs sehr schmal, das junge Ehepaar bekam die Weltwirtschaftskrise zu spüren. Ende 1931 gebar Elfriede ihr erstes Kind, Fritz genannt und zu Beginn des Jahrs 1933 ihr zweites Kind, das auf den Namen Hans getauft wurde.

1936 entstand zwischen den Eheleuten ein Zerwürfnis wegen der Wirtschaftsführung. Es stellte sich heraus, dass Karl Müller nicht sonderlich an dem landwirtschaftlichen Betrieb interessiert war. Er hatte den Hof notgedrungen nach dem frühzeitigen Tod seines Vaters übernehmen müssen, was ihm eine weitergehende Schulbildung verwehrte, wozu seine Lehrer eigentlich geraten hatten, denn er war der beste Schüler in der Dorfschule gewesen. Er hatte auch keinen regulären Beruf erlernt, sondern musste sich unter der Anleitung seines Vaters, der eigentlich ein gelernter Müller war, in die Landwirtschaft einarbeiten. Elfriede stand dem landwirtschaftlichen Betrieb dagegen aufgeschlossen gegenüber und war auch in Wirtschaftsdingen genügend geschult, um den Hofbetrieb erfolgreich führen zu können – doch der Hof gehörte ihrem Mann.

Den Eheleuten gelang es nicht, sich in ihren unterschiedlichen Auffassungen zu einigen, die Ehe wurde schließlich 1936 geschieden. Karl Müller verkaufte umgehend den Hof und war forthin in einer Textilfabrik als Arbeiter tätig, bis er 1939 als Soldat einberufen wurde. Elfriede Müller ging mit ihrem zweiten Sohn Hans nach Berlin. Der erste Sohn blieb gemäß richterlichem Beschluss bei seinem Vater.

In Berlin fand sie zunächst einen bescheidenen Unterschlupf als Hausangestellte in einer Familie aus dem Verwandtenkreis. Als besondere Vergünstigung durfte sie ihr Kind in den Haushalt mit einbringen. In dieser Zeit lernte sie beiläufig einen Rechtsanwalt kennen, dessen Frau Jugendpflegerin war und sich mit den Verhältnissen im Schulwesen auskannte. Diese Frau machte Elfriede Müller darauf aufmerksam, dass es einen großen Lehrermangel gäbe und deshalb besondere Kurzausbildungsgänge eingerichtet worden seien. Eine Bewerbung von Elfriede wurde günstig aufgenommen, so dass sie 1937 in eine Ausbildung zur „Landwirtschaftlichen Berufsschullehrerin“ eintrat. Nach dem erfolgreichen Abschluss wurde ihr zum Februar 1939 eine Lehrerstelle in dem Städtchen Baruth/Mark zugewiesen, wo sie eine Hauswirtschaftsschule einrichten sollte. Diese Aufgabe bewältigte sie zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten. Den Hauswirtschaftsunterricht führte sie nicht nur in Baruth, sondern auch in den umliegenden Dörfern durch, zu denen sie mehrmals in der Woche mit dem Fahrrad hinfuhr. Da wegen des beginnenden Krieges auch einige Lehrkräfte zur Wehrmacht einberufen wurden, musste sie zusätzlich hilfsweise Unterricht in der Volksschule übernehmen.

Baruth, südlich von Berlin in einem vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Umland gelegen, wurde während der Kriegsjahre glücklicherweise vollkommen von dem Luftkrieg verschont. Wenn die Sirenen ertönten, dann standen die Baruther häufig vor ihren Häusern und beobachteten die Kondensstreifen der Bombenflugzeuge oder nachts die Scheinwerferstrahlen. Doch 1944 änderte sich das, Flüchtlinge zogen durch den Ort und schließlich näherte sich die Front.

Eines Tages – der Schulbetrieb sollte gerade beginnen – hieß es plötzlich „Die Russen kommen“ und schlagartig verwandelte sich das bis dahin in Baruth geltende Deutschland in ein gänzlich anderes Deutschland. Kugeln pfiffen über die Häuser, russische Soldaten kamen, forderten Uhren ein und nahmen jüngere Frauen mit sich.

Elfriede Müller harrte im Keller des Schulgebäudes zusammen mit anderen Hausbewohnern aus. Abends, als die Dunkelheit hereinbrach, fühlte sie sich dort ihres Lebens nicht mehr sicher und verließ unbemerkt zusammen mit ihrem Sohn den Keller und schlich sich in die Nacht hinein über die Wiesen in den nicht weit gelegenen Wald. Hinter ihr bildeten die brennenden Häuser des Städtchens Baruth eine gespenstische Kulisse. Nur wenige Häuser in Seitenstraßen wurden von den Flammen verschont. Eine Woche lang wanderte sie nachts auf entlegenen Pfaden durch die Umgebung, ursprünglich in der Hoffnung, dass von den Deutschen kontrolliertes Gebiet noch zu erreichen sei. Es wurde aber bald deutlich, dass es ein solches Gebiet nicht mehr geben würde, so kehrte sie in das bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Baruth zurück.

Ihre Stellung als Lehrerin wurde von der neuen provisorischen Stadtverwaltung als hinfällig erklärt. Sie hatte in Baruth nun keine besonderen Bindungen mehr. Viele der ihr bekannten Menschen waren getötet oder auch einfach nicht mehr da. Ihre Wohnungseinrichtung war von freigelassenen Häftlingen, die ihrer Wut auf die Deutschen freien Lauf gelassen hatten, zerstört worden. Sie machte sich auf den Weg nach Werder an der Havel in der Hoffnung, dort in den zahlreichen Obstplantagen und Gartenbaubetrieben eine Arbeitsstelle zu finden. Nach einer mehrtägigen Fußwanderung erreichte sie zusammen mit ihrem Sohn das Ziel und fand auch in einer Gärtnerei in dem Dorf Phöben bei Werder eine Arbeitsstelle – mit einem Stundenlohn von 0,50 RM pro Stunde. Für die Mitarbeit ihres Sohnes bekam sie einen Zuschlag von 0,10 RM pro Stunde. Sie erhielt aber auch in der Gärtnerei einen Wohnraum, der ursprünglich für „Fremdarbeiter“ errichtet worden war.

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Elfriede Müller in Phöben
in der Umgebung Potsdams (1949)

Es fand sich ein älteres Ehepaar ein, das Elfriede Müller aus dem Schulbetrieb in Baruth kannte. Gemeinsam mit diesem Ehepaar wurde als Wohngemeinschaft eine kleine Wohnung in Phöben gemietet. Das Leben normalisierte sich, aber doch in beunruhigender Weise. Das neue Regime sorgte zwar für geordnete Verhältnisse, es wurde aber bei weitem nicht von allen Menschen geschätzt und manche opponierten mehr oder weniger aktiv. Solche Menschen, die sich verdächtig machten, wurden unbarmherzig verfolgt. Man sagte damals, dieser oder jener sei „abgeholt“ worden. Die Betroffenen waren tatsächlich für einige Zeit verschwunden und es gab nirgendwo Aufklärung über ihren Verbleib. Diese Vorfälle trugen dazu bei, dass sich eine ständige Fluchtbewegung nach Westberlin entwickelte, das vor 1961 trotz mancher Verbote noch leicht zugänglich war.

So erging es dem Mann des befreundeten Ehepaares. Im Sommer des Jahres 1951 fuhr eines Tages ein Auto vor – damals in dem kleinen Dorf Phöben ein auffälliges Ereignis, zwei Männer stiegen aus, durchsuchten das Haus und erklärten dann dem Mann, dass er „zur Klärung einer Angelegenheit“ mitkommen müsse. Das Auto verschwand und mit ihm der Mann.

Elfriede Müller befürchtete Weiterungen, besonders auch deshalb, weil in der Oberschule in Werder, die ihr Sohn besuchte, eine oppositionelle Schülergruppe aufgespürt worden war und einige Schüler offenbar verhaftet worden waren, über deren Verbleib allerdings nichts zu erfahren war. Darunter war auch ein Schulkamerad ihres Sohnes. Sie beschloss deshalb, mit ihrem Sohn und der Ehefrau des verschwundenen Mannes die DDR zu verlassen.

Nach möglichst unauffälligen Vorbereitungen und unter Zurücklassung von allem bescheidenem Hab und Gut, das sie nach dem Kriegsende wieder hatte erwerben können, fuhren die Drei auf getrennten Wegen nach Westberlin, das sie auch glücklich erreichten. Dort fanden sie zunächst Aufnahme bei einer entfernten Verwandten in einem vom Bombenkrieg noch arg beschädigten Haus.

Die Flüchtlinge aus der DDR mussten ein „Notaufnahmeverfahren“ durchlaufen, das eine große Strapaze für sie mit sich brachte, weil die Verwaltung in Westberlin der großen Zahl von Flüchtlingen kaum gewachsen war. Aber alle wurden versorgt, wurden mit bescheidenen Mitteln ausgestattet und erhielten schließlich auch Unterkünfte zugewiesen. Elfriede Müller wurde mit ihrem Sohn in einen kleinen Raum im „Fichtebunker“ einquartiert, einem ehemaligen Gasometer in der Fichtestraße, der im Krieg zu einem Luftschutzbunker umgebaut worden war.

Nach einigen Wochen konnte Elfriede Müller zur Untermiete in zwei Zimmer in Berlin-Kreuzberg einziehen. Sie galt als „arbeitslos“, was in jener Zeit in Westberlin ein häufiges Schicksal war. Zur Abhilfe wurden „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ durchgeführt, wodurch sie in das Büro eines Professors an der Pädagogischen Hochschule gelangte. Als der erkannte, dass sie eine ausgebildete und praxiserfahrene Lehrerin war, machte er sie darauf aufmerksam, dass zwar nicht in Westberlin, aber in Westdeutschland Lehrkräfte gesucht würden und vermittelte ihr Bewerbungsadressen. Elfriede Müller bewarb sich mit Erfolg und erhielt 1955 eine Stellenangebot für die Außenstelle Schneverdingen der Landwirtschaftlichen Berufsschule Soltau in der Lüneburger Heide. Hier ergab es sich, dass die Außenstelle zu einem eigenen Standort der Berufsschule ausgebaut werden sollte, so dass Elfriede Müller bei ihrem zweiten Berufsstart als Lehrerin wiederum ihren eigenen Arbeitsplatz gemeinsam mit den Kollegen gestalten und einrichten musste. Aber anders als 1939 zogen trotz des „kalten Krieges“ keine wirklichen Kriegswolken auf, im Gegenteil, in der jungen Bundesrepublik entwickelte sich ein phänomenaler Wirtschaftsaufschwung, der zu einem breit gestreuten Wohlstand führte. Elfriede Müller konnte nun ein sorgenfreies Leben führen und sich ganz mit ihrem Beruf befassen. 1967 beendete sie ihre Berufstätigkeit und konnte jetzt mancherlei anderen Aufgaben nachgehen. Sie unterstützte die Familien ihrer Söhne bei der Geburt der fünf Enkelkinder. Sie nahm an einem Lehrgang teil, um die Bücher einer evangelischen Leihbücherei für das Hamburger Krankenhaus nach neuen Regeln katalogisieren zu können, mit dieser Arbeit war sie längere Zeit beschäftigt. Als Rentnerin konnte sie endlich ihre Verwandten in der DDR besuchen. Für die evangelische Kirche übernahm sie in Schneverdingen die Bearbeitung der Anträge auf Unterstützung durch das Müttergenesungswerk. Sie wurde aktives Mitglied im Evangelischen Frauenbund Deutschlands, wo sie auch funktionelle Aufgaben übernahm. 1972 siedelte nach Westberlin über, um in der Nähe der Familie ihres jüngeren Sohnes sein zu können. Hier schloss sie sich der evangelischen Kirchengemeinde in Berlin-Siemensstadt an und übernahm wiederum Aufgaben im Evangelischen Frauenbund. In diesem Rahmen arbeitete sie in einer kleinen Vortragsreihe die Bilder von Frauen heraus wie Tania Blixen, Friederike Fliedner, Edith Stein, Rosa Luxemburg, deren Leben und Wirken sie für besonders eindrucksvoll hielt. Aber auch Ernst Barlach machte sie zu einem ihrer Themen.

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Elfriede Müller
mit Zweien ihrer drei Urenkel (2002)

1990 konnte sie nach dem Fall der Mauer nach Jahrzehnten endlich wieder den Ort ihrer Kindheit und Jugendzeit besuchen: Rathenow. Obwohl Vieles zerstört und verändert war, kannte sie doch manches Haus wieder, in dem sie ihre Schulfreunde und -freundinnen getroffen hatte, manchen Ort, von dem sie wusste, das hat Vater gebaut und sie erinnerte sich, nach Ferchesa ist Mutter mit uns zum Baden gefahren. Sie bestieg den Weinberg und fand von einem Urwald fast überwuchert die Ruine des Bismarckturms und richtete an den Bürgermeister Rathenows einen Brief mit der Bitte, dass man sich doch um die Wiederherstellung bemühen möge. Als sie bei der Steinsetzerei Neils klingelte und sich vorstellte wurde sie von Rudolf Eißer mit den Worten empfangen: „Sprotte? Der hat nicht diskutiert, der hat entschieden!“ Ihr Anliegen war, dass sie ihrem Vater einen Grabstein setzen lassen wollte. Als ihre jüngere Schwester 1937 im Sterben lag, hatte sie der das versprochen und hatte dieses Versprechen über die Jahrzehnte hinweg nicht einlösen können. Nun endlich konnte sie den Grabstein in Auftrag geben.

Sie trat auch dem Förderkreis zum Wiederaufbau der Sankt-Marien-Andreas-Kirche in Rathenow bei, der Kirche, die ihr Vater als ein sakrales märkisches Bauwerk besonders geschätzt hatte und in der sie vor Jahrzehnten eingesegnet worden war.

Elfriede Müller suchte die Grabstelle ihrer Eltern auf dem Evangelischen Friedhof, sie wusste ungefähr noch die Lage, konnte aber nichts finden, die Grabstelle war aufgelassen worden. Die Leiterin der Verwaltung des Friedhofes und Vorsitzende des Vereins Memento, Frau Eva Lehmann, konnte die Grabstelle schließlich wieder lokalisieren. Auf einen Antrag des Vereins Memento hin wurde vom Gemeindekirchenrat die Grabstelle der Familie als ein Beitrag zur Bewahrung der Geschichte der Stadt Rathenow zur Nutzung übertragen.

Elfriede Müller starb am Neujahrstag 2003.

Elfriede Müller hat als eine geborene Sprotte nach einem langen Leben, dessen Herausforderungen sie angenommen hat, ihre letzte Ruhestätte auf der Grabstätte ihrer Eltern im Angesicht der St.-Marien-Andreas-Kirche gefunden.

 

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Grabstein von Elfriede Müller
auf dem Weinbergfriedhof
in Rathenow