61-Landin-Der Wadenbeißer von Landin 01.03.2022

 

 

Nr. 61 Der Wadenbeißer von Landin

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Ferdinand Rabe war ein Bauer von Landin, der als vermögend galt. Sein schöner Hof lag 1885 im Zentrum des Dorfes. Er hatte sieben Söhne. Als die Söhne herangewachsen waren, rief der Vater sie zu sich und präsentierte ihnen ein Bündel mit sieben Holzstöcken, die er fest verschnürt hatte. Er forderte seine erwachsenen Söhne auf, das Bündel zu durchbrechen. Keiner schaffte es. Da sagte der Vater: „Es ist ganz einfach.“ Er schnürte das Bündel auf und zerbrach jeden Stab einzeln. „Wenn ihr zusammenhaltet, seid ihr stark,“ so sagte der Vater. Aber die Hoffnung des Vaters, dass alle Kinder in Landin bleiben sollten, ging nicht auf. Bis auf den ältesten Sohn, der den Hof erbte, heirateten alle Frauen aus anderen Dörfern und zogen fort.

Ferdinand Rabes Frau Else war vorgealtert und wankte unsicher hin und her. Wenn sie mit dem Fahrrad durch das Dorf fuhr, rief sie schon von weitem: “Platz! Platz!“ Sie war sehr dünn und immer in schwarz gekleidet und die Menschen riefen: „Jetzt kommt Gevatter Tod,“ wenn sie durch das Dorf radelte.

 

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Ferdinand Rabe war ein ängstlicher und vorsichtiger Mann und hatte einen scharfen Hund angeschafft, der die Menschen schon im halben Dorf gebissen hatte. Es kam ja kaum ein Dieb nach Landin, aber der Reichtum, den Ferdinand Rabe angesammelt hatte, machte ihn misstrauisch gegen alle anderen. Ferdinand Rabe lobte seinen Hund, wenn er jemand gebissen hatte und freute sich sehr darüber, dass er einen so wachsamen Hausgenossen bei sich hatte. Wenn er von seinem Hund Arko sprach, leuchteten seine Augen. Als der Postbote eines Tages einen Brief zu überbringen hatte, kam Arko mit fletschenden Zähnen angerannt und wollte ihn beißen, aber der Königliche Postbote Otto Seiffert war kein Mensch, der sich schnell in die Flucht schlagen ließ. Er ergriff eine Forke, die auf dem Hof stand und versuchte den Hund damit abzuwehren. Aber Arko war ein mutiges Tier und ließ sich durch die Forke nicht einschüchtern. Er lief um den Königlichen Postboten herum und versuchte immer wieder, ihn zu beißen. Da stach Otto Seiffert so fest zu, wie er konnte und tötete den Hund.
Ferdinand Rabe war erbost und sehr aufgebracht. Er zeigte den Postboten an und verlangte Schadenersatz. Der treue Wächter seines Hauses stellte für ihn einen  hohen Wert dar. Er verlangte für den Hund 50,00 Goldmark (891,00 €) vom Postboten Otto Seiffert. Der Postbote weigerte sich, die Summe zu bezahlen und so landete der Fall vor dem Königlichen Amtsgericht in Rathenow, wo Postbote und Bauer nun gehört wurden. Den Vorsitz beim Amtsgericht führte der Richter Wedigo von Amselbach und war von der Darstellung des Bauern Ferdinand Rabe sehr angetan. Ein wachsamer Hofhund war auch für ihn eine Sache von unschätzbarem Wert. Der Königliche Amtsrichter war mit Hunden aufgewachsen und wollte gern dem Bauern helfen. So fragte er den Postboten: “Warum haben Sie denn den Hund nicht mit dem Forkenstiel abgewehrt? Das wäre doch ausreichend gewesen.“ „Ja,“ sagte Otto Seifert, „Herr Amtsrichter, ich hätte das schon mit dem Forkenstiel getan, wenn der Hund mich mit dem Schwanz angegriffen hätte, aber die Bestie benutzte ihre Zähne.“ Wedigo von Amselbach schmunzelte über diese Antwort und erkannte für Recht, dass der Postbote keinen Schadenersatz zu zahlen hätte, weil Leib und Leben akut bedroht worden seien.

 

© Dr. Heinz-Walter Knackmuß, 01.03.2022