Abschiedspredigt von Georg Heimerdinger am 04.11.1951

 

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Abschiedspredigt
von Superintendent Georg Heimerdinger
gehalten am 04.11.1951
in der Lutherkirche zu Rathenow

Psalm 119,54: Deine Rechte  sind mein Lied
im Hause meiner Wallfahrt
(Solange ich Gast auf dieser Erde bin, sind deine Gebote Inhalt meiner Lieder).

Teure Gemeinde!
Bewegten Herzens betrete ich heute die Kanzel unserer Lutherkirche. Fast 45 Jahre sind vergangen, seit ich damals als junger Geistlicher zum ersten mal das Wort Gottes in unserer Stadt habe verkündigen dürfen. Heute, hochbetagt, nehme ich Abschied von dem Amte eines Pfarrers dieser Gemeinde, wenn ich auch, so Gott will, noch eineWeile hier und da vertretungswiese ihr zu dienen gedenke.
Unvergesslich ist mir jener Tag, der 6. Januar 1907, da ich, vom Magistrat der Stadt zu einer Gastpredigt eingeladen, die Kanzel unserer schönen alten St.-Marien-Andreas-Kirche bestieg. Es herrschte ein grimmiger Frost. Die Straßen waren von Glatteis bedeckt, sodass der Weg zu Kirche für die Gemeindeglieder ein Wagnis war. Nur wenige waren daher auch gekommen neben den wahlberechtigten Mitgliedern der Stadtverwaltung. Ich glaubte nicht, dass die Wahl auf mich fallen werde. Und nun habe ich fast ein halbes Jahrhundert Dir, meiner lieben Gemeinde, in Freud und Leid das Wort Gottes zu Trost und Mahnung sagen dürfen. Welch eine Gnade, die mich zu tiefster Beugung unter Gottes Barmherzigkeit treibt!
In unserer St. Marien-Andreas-Kirche hing früher das Bild eines alten Superintendenten, damals Inspektor genannt, des Magisters Veitus, zu deutsch Voigt. Ich habe manchmal in glücklicheren Tagen mit meinen Konfirmanden davor gestanden, wenn ich ihnen die altne Erinnerungsstücke der ehrwürdigen Kirche erklärte. Voigt war Pfarrer und Superintendent in Rathenow während des30jährigen Krieges, der vor 300 Jahren über unser Vaterland und unsere Stadt dahinbrauste und unendlich vieles in Stadt und Land vernichtete. In seinen Zügen trug der Alte, aber noch immer Aufrechte, die Spuren seines Erlebens. Wir ahnten damals nicht, dass noch einmal eine Zeit für Deutschland und unsere Gemeinde kommen werde, kaum weniger furchtbar, vernichtend und langdauernd wie jener unselige 30jährige Krieg. Und nun hat Gottes Ratschluss es gefügt, dass noch einmal einem Pfarrer und Superintendenten eine ähnliche Aufgabe beschieden sein sollte. Schwere Jahre in meinem Amte! Und doch wie reich an Gottes tragender, rettender und segnender Güte!
Von ihr lasst mich heute im Abschiednehmen an Hand unseres Textes reden.
"Deine Rechte sind mein Lied im Hause meiner Wallfahrt", sagt  der Psalmist. " Haus der Wallfahrt", das ist die Stätte des irdischen Lebens, das Leben auf der Erden. "Wir sind Fremdlinge und Gäste vor Dir wie unsere Väter alle", lautet ein altes Bibelwort. Das predigt uns eindringlich genug der Herbst mit seinen fallenden Blättern, auch "ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darübr geht, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr". - Das kündet uns jedes Grab, das ruft uns mit gewaltiger Stimme zu die Geschichte, die wir miteinander erlebt haben in dieser ernsten Zeit.
Damals unsere alte schöne St. Marien-Andreas-Kirche, Erinnerungen bergend aus 7 Jahrhundeten, hochragend - heute in Trümmer gesunken, verbrannt, zerstört bis auf die Randmauern. Als ich damals hierher kam, grüßte mich schon auf der Bahnstrecke der hohe Turm der Kirche, dasWahrzeichen unserer Heimat, den Davonziehenden den letzten Abschiedsgruß zuwinkend, mir wie ein Willkommengruß der neuen Heimat, in die ich einzog, - ich sah ihn dann im Frühling 1945 in Flammen gehüllt sich neigen mit seinem Kreuz und zusammenstürzen; lange noch lohte der Brand unserer lieben Kirche, in der ich 38 Jahre hindurch meiner Gemeinde das Wort Gottes hatte sagen dürfen. Die Flammen rauschten und sangen das ernste Lied von der Vergänglichekeit alles Irdischen.
Und wo sind die Männer und Frauen, die in langen Jahren sich um unsere Kanzel scharten? Ich bin gestern über unseren stillen, im Farbenglanz des Herbstes prangenden Friedhof gegangen und habe vor vielen Grabmälern gestanden. Es ist ein ganze Gemeinde, die ich dort hinauf geleitet habe zur letzten Ruhestätte. Viele darunter liebe Freunde, auch viele andere treue Besucher unserer Gottesdienste. Mehr als 3000, denen ich in 45 Jahren letzte Worte des Gedenkens widmen und den leidvollen Herzen Gottes Trost und Mahnung habe zusprechen dürfen. Wallfahrer sie alle, Wanderer zwischen zwei Welten, hier nur eine Zeitlang im Hause der Wallfahrt zeltend. "Wir haben heir keine bleibende Stadt, sondern die zuküftige suchen wir", wie die Bibel sagt.
Ich denke an die Scharen der Kinder, die ich im Laufe der Jahre eingesegnet habe. Ihrer 5463 sind es, die ins Leben hinausgezogen sind, manche zu frühem Tode, zumal Knaben, die herangereift, ihr Leben hingeben mussten. - andere, die eingesegnet wurden und, Gott sei´s geklagt, zugleich ausgesegnet, das heißt ihrer Kirche entfremdet, - das ist ein bitterer Schmerz für den Seelsorger im Abschiednehmen - und wieder andere heute schon Großeltern der jungen Generation, konfirmiert, getraut, manche schon zu Grabe getragen. Ja, es ist ein wehmütiges Lied, das man im Abschiednehmen hört im Hause der Wallfahrt, in dem wir wohnen. Und doch wird dieses Leid weit übertönt von einem anderen,dem von der nimmermüden Treue Gottes, seiner unendlichen Güte und Gnade, die über uns waltet.
Als mein guter unvergesslicher Vater starb, nach langem schweren Krankenlager, niedergeworfen in der Fülle siener Kraft, inmitten einer Schar unversorgter Kinder, - ich habe es manchmal meiner Gemeinde erzählt zur Erbauung, - sagte er: "Mein Leben war wie das Rollen einer goldenen Kugel, beglänzt von der Gnade Gottes". Er ließ, den Ältesten, in der letzten Nacht das Lied vorlesen, das wir soeben gesungen haben:

"Womit soll ich dich wohl loben,
mächtiger Herr Zebaoth?
Sende mir dazu von oben
Deines Geistes Kraft, mein Gott;
denn ich kann mit nichts erreichen
Deine Gnad` und Liebeszeichen.
Tausend, - tausendmal sei Dir,
großer König, Dank dafür".

Auch darf ich heute im Rückblick mitdiesem Liede bekennen:

"Mich hast Du auf Adlersflügeln
stets getragen väterlich,
in den Tälern, auf den Hügeln
wunderbar errettet mich.
Schien auch alles zu zerrinnen,
ward doch Deiner Hilf ich innen.
Tausend, - tausendmal sei Dir,
großer König, Dank dafür".

Aber, meine Freunde, kann nicht zuletzt jeder von uns, wenn er`s nur recht bdenkt, indiesen Lobpreis einstimmen? Viele sind unter uns, die ein schweres Geschick zu tragen haben, Verlust der Heimat undHabe, Armut, Mühe und Sorge, - wer will ausreden, was über Menschen kommen kann und gekommen ist, zumal in unserere Zeit! Und dennoch! Der alte Gott lebt noch. Seine Barmherzigkeit hat noch keine Ende, und seine Treue ist groß. Er hat seine Leibe offenbart im Leben und Sterben seines lieben Sohnes, unseres Heilands, wer weiß, der kann danken auch im Leide und in der Not unserer Pilgrimschaft.
"Deine Rechte sind mein Lied im Hause meiner Wallfahrt", sagt der Psalmist. Inmitten der Vergänglichkeit und Hinfälligkeit aller irdischen Dinge weiß et etwas Festes, Unvergängliches, das, was wir eben in dem  schönen Chorlied hörten:

" Alles vergehet,
Gott aber stehet
ohn alles Wanken;
seine Gedanken,
sein Wort und Wille
hat ewigen Grund".

Die Rechte Gottes sind seine unabänderlichen Gesetzte in Gericht und Gnade. Das ist der Felsengrund auf dem er steht in allen Stürmen seines Lebens.
Von diesen Rechten habe ich Dir, liebe Gemeinde, zu zeugen gesucht in diesen langen Jahren. Das war der Inhalt meiner Predigten. Was über uns gekommen ist, ist keine zufall, kein blindes sinnloses Geschehen, nicht bloss die Schuld anderer. Wie war unser Volk, und istes noch, in weitesten Kreisen so gottlos geworden! Wir hatten es jasoweit gebracht auf allen Gebieten des Lebens, in Technik und Industrie, in Wissenschaft und Kunst, in Handel und Wandel! Wirbrauchten Gott nicht mehr. Gott war von seinem Thron gestoßen und der Mensch hate sich auf seinen Stuhl gesetzt, - so meinte er. Aber das Recht Gottes bleibt bestehen. - "Irret ech nicht, Gott lässt sich nicht spotten, und was der Mensch säet, das wird er ernten." Wir haben es erfahren in schweren gerichten. Wenn unser Volk Einkehr und umkehr haltenwird und das Recht Gottes in Ehrfurcht und Gehorsam wieder anerkennen will, dann wird auch der Bogen sienerGnade wie nach der Sintflut von neuem über unser Volk aufleuchten. Dies beides, Gericht und Gnade zu verkünden, ist und bleibt die Aufgabe des Predigtamts. Ich habe ise, ob auch in Schwachheit, zu erfüllen gesucht. Mehr freilich von der Gnade als vom Gericht habe ich gepredigt. Vielleicht zu wenig von letzterem. Aber es war mir schwer, einer gedrückten, bedrängten und unglücklichen Gemeinde nicht vor allem Trost zuzusprechen. Schelten und Strafen liegt nicht in meiner Natur. Möge der Herr, der einst die Mühseligen und Beladenen freundlich zu sich gerufen, mir vergeben, wenn ich den Ernst seiner Gerichte nicht genügend herausgestellt habe.
Ob auch Versäumnis in solcherStunde dem Scheidenden schwer auf dem Herzen liegt, eins darf ich sagen: Mit Freude und Liebe habe ich die frohe Botschaft von der sündenvergebenden Gnade Gottes der Gemeinde nahezubringen versucht, immer in möglichst schlichter, allen verständlicher und anschaulicher Form. Und immer habe ich das Amt, wenn auch als innerlich schweres und verantwortliches, so doch auch köstliches empfunden; keinen Augenblick würde ich schwanken, wenn ich noch einmal davorstünde, es unter allen anderen zu wählen.
So klingt denn mein Pilgerlied im Hause meinerWallfahrt laut von Lob und Dank gegen Gottes immer gnädige Führung.
Wenn ich aber heute Gott aus tiefsten Herzen danke, so gesellt sich dazu und ist darin eingeschlossen derDank gegen dich, meine liebe Gemeinde. Dank sei dir für alle Anhänglichkeit, Freundlichkeit und Liebe, die du mir so reichlich erwiesen, Dank vor allem denen, die zum Teil jahrzehntelang in Treue unsere Gottesdienste besuchten. Das ist das beste,was eine Gemeinde ihrem Prediger erweisen kann. Der Gottesmann Claus Harms hat bei seinem Amtsantritt in Kiel gesagt: "Vor leeren Bänken kann ich nicht predigen, dann ist es mir, als ob die leeren Bänke einem zuriefen: Schüttle den Staub von deinen Füßen, suche dir einen anderen Posten". Solche schmerzliche Mahnung hat die Treue und das Vertrauen der Gemeinde mir erspart und mich ermutigt, wenn ich an mir verzagen wollte.
Dank schulde ich auch den treuen Brüdern und Schwestern, die mir allezeit zur Seite gestanden haben. Euch, lieben Amtsbrüder, zuerst. Es kann leicht geschehen bei gleichem Amte in derselben Gemeinde, dass Misshelligkeiten, Störungen der Eintracht und des Friedens sich einstellen. Nichts aber gefährdet, hemmt und hinter Segen und Erfolg der Arbeit mehr, als wenn die, die den Frieden predigen, selbst nicht Frieden halten können. Und wir sind doch alle Menschen, Menschen besonderer Eigenart, mit besonderen Schwächen. Mit Dank und Liebe darf ich es heute bekennen, dass wir zusammengestanden haben, im tiefsten eines Sinnes, eines Glaubens, und dass ihr, die Jüngeren, mich den Altgewordenen in Geduld und Nachsicht getragen habt, auch wo die Meinungen manchmal auseinandergingen.
Mit euch aber danke ich unserem Gemeindekirchenrat, unseren Ältesten, die mit Hingabe und unter Opfern an Zeit und Kraft neben ihrem weltlichen Beruf unserer Gemeinde gedient und auch mir zu Seite gestanden haben mit Rat und Tat.
Nicht vergesse ich die vielen anderen treuen Helfer und Helferinnen unserer Gemeinde, ob es nun unser Kirchenchor war, der unser Gottesdienste verschönte, wobei ich des in 30 Jahren bewährten Herrn Schröter und seienr jüngeren Nachfolger in Amt der Chorleitung besonders gedenke. Oder des Posaunenchors, der der blühendste in der ganzen Provinz ist. Unserer lieben Gemeindeschwestern, die ohneWorte aber mit der Tat die Liebe unseres Heilandes predigten, - unserer Katecheten, die sich unserer Kinder annehmen, unserer treuen Kirchenbeamten und Angestellten, die Verwaltung und Kirchendienst versahen, zur Hilfe immer bereit. Genug, - der Scheidende möchte ihnen allen die Hand drücken und ihnen sagen: " Habt Dank, ihr leiben Wandergefährten im Hause meiner Wallfahrt in all den langen Jahren gemeinsamer Arbeit".
Un nun klingt das Lied aus. Es geht zu Ende, wenn der Pilger, und das sind wir doch alle, aus der Fremde in die Heimat kommt, wenn das Wanderzelt abgebrochen wird und jenes andere Haus den Christen aufnimmt, von dem der Herr sagt: " In meines Vaters Hause sindviele Wohnungen; wenn`s nicht so wäre, so wollte ich zu euch sagen, ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten". Da wird das Sehnen gestillt,der Glaube gekrönt, die Hoffnung erfüllt.

" Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren,
hoch nach dem letzten ausgekämpften Streit
wir aus der Fremde in die Heimat kehren
und einziehn in das Tor der Ewigkeit,
wenn wir den letzten Staub von unsereren Füßen,
den letzen Schweiß vom Angesicht gewischt
und nun von Angesicht zu Angesicht
begrüßen den, der durch den Glauben
im Pilgertale uns erfrischt?"

Lasset uns Fleiß tun, liebe Gemeinde, einzukommen zu dieser Ruhe, wie der Apostel im Hebräerbrief uns mahnt. Dann  wird das Leid der Wallfahrt nach allen Dissonanzen unserer Erdenpilgerschaft sich auflösen in selige Harmonien zum Lobe unseres Gottes.
So löse ich denn das Band, soweit es äußerlich, amtlich, mich mit Dir, meine liebe Gemeinde, mehr als 44 Jahre verbunden hat. Nich löse ich das Band der dankbaren Erinnerung, das mich immer mit Dir verbinden wird. Ich befehle Dich Gott und dem Reichtum seiner Gnade, Euch meine Brüder, dass Gott Euch segnen möge, Euch allezeit Freudigkeit zu seinem Dienste und Erfolg der Arbeit schenke. Ich befehle unsere Alten, das Gott sie im Glauben beharren lasse bis an`s Ende, unsere junge Gemeinde, dass sie wachsen möge in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn Jesu Christi, - unsere Kranken, dass Gott sie stärke in Geduld und Kraft des Gebetes, unsere Sterbenden, dass Gott ihnen eine seliges Ende beschere und fröhliche Auferstehung in der Heimat droben im Licht. So möge denn unser aller Lebensweg gehen und enden nach dem Worte unseres Textes: "Deine Rechte sind mein Lied  im Hause meiner Wallfahrt".

Amen.

 

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Grabmal des Superintendenten Georg Heimerdinger
auf dem Weinbergfriedhof in Rathenow

 

Copyright: Dr. Heinz-Walter Knackmuß 06.03.2019