3. Nachruf für Frank Richter

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3. Nachruf im Rundbrief 53/09 des Landesverbandes Brandenburg der Angehörigen psychisch Kranker e.V. von Professor Dr. Peter Stolz

Alles hat eine bestimmte Zeit,
jedes Tun unter dem Himmel hat seine Zeit.
Geboren werden und Sterben hat seine Zeit;
Pflanzen und Ernten hat seine Zeit;
Suchen und Finden haben ihre Zeit
(Buch Prediger 3, 1-8)

Am 6 Juli 2009 ist Frank Richter von uns gegangen
Liebe Angehörige und Mitglieder des Landesverbandes,
es ist mir ein wichtiges Anliegen, das tatkräftige und ideenreiche Engagement des
langjährigen Vorsitzenden und Ehrenvorsitzenden des Landesverbandes Brandenburg der
Angehörigen psychisch Kranker e.V. zu würdigen. Alle, die mit ihm zusammen arbeiteten,
haben seine Verlässlichkeit geschätzt. Wir konnten seinen Mut und seine Hartnäckigkeit
bewundern, Verantwortung für den praktischen Aufbau der Angehörigenarbeit zu
übernehmen. Unermüdlich hat er sich zusammen mit seiner Frau in der nachberuflichen
Lebensphase eingesetzt, um die in den neuen Bundesländern weitgehend unbekannte
Angehörigen-Selbsthilfe im Bereich der Begleitung und Betreuung von Menschen mit
schweren psychischen Krisen und Erkrankungen bekannt zu machen. Er hat das Potential der
gegenseitigen Informations- und Beratungsmöglichkeiten genutzt, um solidarische
Hilfeleistung und Unterstützung zu ermöglichen.
Die persönliche Zusammenarbeit mit Herrn Richter ist für mich Anlass, an die Jahre der
Entwicklung der Angehörigenbewegung im Land Brandenburg zurückzudenken. Gleich nach
der Wende suchte Familie Richter nach Wegen und Freiräumen, die psychosozial
beeinträchtigenden Folgen im Leben ihrer psychisch erkrankten Tochter zu mildern und den
Zusammenhalt der Familie zu stärken. Ein solcher Gesundheitseinbruch ist für alle
Angehörigen mit Versagensgefühlen, Selbstvorwürfen, Einsamkeit und Resignationsgefühlen
verbunden. Herr und Frau Richter haben sich zugetraut, im Land Brandenburg nach
Verbündeten Ausschau zu halten. Am 25.11.1993 gründeten 30 Angehörige aus allen
Landesteilen Brandenburgs unter Vorsitz von Herrn Richter den Landesverband. Nach und
nach sind bis heute nahezu 50 Selbsthilfe-Gruppen für Angehörige psychisch kranker
Menschen entstanden. Manche haben sie ihre Arbeit eingestellt, neue sind hinzugekommen.
Ziel ist nach wie vor, in Selbsterfahrungsgruppen das oft schwer erträgliche Lebensschicksal
zu mildern, eigene Ressourcen zu entdecken, Anstöße zu bekommen und sich gegenseitig zu
ermutigen, die eigenen Bedürfnisse nicht hintanzustellen und zugleich Geduld und Hoffnung
zu bewahren.
Psychosen geben Rätsel auf. Sie lassen niemanden unberührt. Menschen mit Psychosen
überfordern durch ihren unbesorgten Eigensinn, die Unbekümmertheit um ihre Existenz,
durch ihre grandiose Selbstüberschätzung oder depressive Selbstabwertung, durch „naiv
kindlich“ wirkende Lebensplanung. In diesen schweren seelischen Verstörungen steckt aber
auch für alle Beteiligten die Chance, mehr über sich selbst zu erfahren, aus den so
unterschiedlichen Wahrnehmungen zu lernen und die Bedingungen des Zusammenlebens
immer neu zu überdenken. Dies mag zugleich schmerzhaft und befreiend sein. Alle sind
gefordert, die eigene Wahrnehmung zu erweitern. Die schwierigste Aufgabe ist sicher, ganz
eigene Antworten zu finden auf viele offene Fragen. Wechselwirkungen und gegenseitige
Einflussnahme festzustellen, ohne zu beschuldigen, ist eine hohe Kunst, die möglicherweise
– so erfahren wir es in Psychoseseminaren - erst nach intensivem und langjährigem
Austausch gelingen kann.
Mit dem vierteljährlichen Rundbrief hat der Landesverband ein wichtiges Verbindungs- und
Kommunikationsmittel gegenseitiger Information und Weiterbildung erarbeitet. Bei neuen
Gruppengründungen standen Herr Richter und der Vorstand in der Anfangsphase beratend
und begleitend zur Verfügung. Höhepunkte in der Arbeit waren die seit 1994 jährlich
stattfindenden Fachtagungen für Angehörige, Psychiatrieerfahrene und psychiatrische
Fachkräfte gewesen. Die Planung dieser Veranstaltungen lag neben intensiver Unterstützung
durch viele Mitglieder fast ausschließlich in den Händen von Herrn Richter. Oft hat er sich in
überaus großer Sorge um das Gelingen bis an den Rand seiner Kräfte eingesetzt. Und
manchmal fiel es ihm schwer, Arbeiten in vertraute Hände von MitstreiterInnen zu legen.
Durch die Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes und der einzelnen Angehörigengruppen konnte
die Teilnahme an den Jahrestagungen, die sich inzwischen zu einer anerkannten Institution im
Land Brandenburg entwickelt haben, erheblich gesteigert werden.
Es sollen einige Ereignisse in Erinnerung gerufen werden, an denen ich selbst mit Spannung
und großer Freude teilnehmen durfte:
1994 „Angehörige und Betroffene im Aufbruch“ mit Prof. Dr. Katschnig, Wien (100
Teilnehmer)
1995 Seminar: „Rückfallrisiko“
1998 „Mehr Lebensqualität für unsere Angehörigen und Betroffenen“ mit Prof. Dr.
Angermeyer, Leipzig (170 Teilnehmer)
1999 „Die Rolle der Angehörigen in der psychiatrischen Versorgung - zwischen
Aufopferung und Abgrenzung“ mit Dr. Nils Pörksen, Bielefeld (200 Teilnehmer)
2000 “Der Angehörige und der schwierige Patient“ mit Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner,
Hamburg.
Die von Herrn Richter vorbereiteten Tagungen haben nicht nur eine Fülle von Informationen
geboten, sondern auch Möglichkeiten des dringend benötigten Erfahrungsaustausches und der
Kontakte zwischen Angehörigen eröffnet. Wir haben in den Kleingruppen zusehen können,
wie viel Angst, Verzweiflung, Scham, Trauer und Wut sich in Familien entwickeln. Fast
unausweichlich geht es in der Auseinandersetzung mit der psychischen Erkrankung eines
Familienmitgliedes um Fragen der Verantwortung und der Schuld. Die ebenso
unvermeidbaren emotionalen Verstrickungen lösen heftige seelische und soziale Nöte und
Not-Abwehr-Maßnahmen aus. Nach anfänglich verzweifeltem Verleugnen und Schönreden
geht es bei allen Angehörigen um die Suche, die psychische Verstörung zu begreifen,
anzunehmen und mit ihren Folgen zu leben.
Der beharrlichen Aktivität von Herrn Richter ist es zu verdanken, dass der
Angehörigenverband auch in das Brandenburger Gesetzgebungsverfahren zum Psychisch-
Kranken-Gesetz (PsychKG) einbezogen wurde. Herr Richter und der Vorstand hielten engen
Kontakt mit dem Psychiatriereferat des Brandenburger Ministeriums für Soziales, Gesundheit
und Frauen. Ebenso ist es dem Bemühen von Herrn Richter und dem Vorstand gelungen, die
Kontakte zu den psychiatrischen Klinikleitungen so zu intensivieren, dass ein regelmäßiger
Erfahrungsaustausch stattfinden konnte, um den Interessen der Angehörigen in der
Krankenbehandlung und Klinikbetreuung mehr Gewicht zu verleihen.
Herr Richter hat durch sein ehrenamtliches Engagement auf die Notwendigkeit eines bürgerund
nutzerorientierten Gesundheitswesens aufmerksam gemacht. Sein Engagement zielte auf
das berechtigte Einfordern von Information und Aufklärung durch behandelnde Ärzte und
psychiatrische Institutionen. Dies nicht nur gegenüber den erkrankten Familienmitgliedern,
sondern auch gegenüber deren Angehörige, tragen sie doch häufig die Hauptlast in der
Betreuung ihrer erkrankten Familienmitglieder. Der Angehörigenverband hat sein Interesse an
mehr Transparenz von Gesundheitsleistungen und Behandlungsrisiken immer wieder durch
die Feder von Herr Richter Gewicht verliehen.
An dem wichtigen Ziel der Partizipation von Angehörigen und psychoseerfahrenen Menschen
an Entscheidungen über Gesundheitsleistungen, Therapieverfahren und Behandlungen hat der
Angehörigenverband auch nach dem krankheitsbedingten Rückzug von Herrn Richter mit
unterschiedlicher Intensität und einigen zwischenzeitlichen Umwegen weitergearbeitet. Die
von Herrn Richter in Brandenburg angestoßene Angehörigenbewegung ist heute ein wichtiger
Bestandteil in der Durchsetzung von Verbraucherschutzrechten und Qualitätssicherung von
Gesundheitsleistungen, entsendet doch der Landesverband fünf Mitglieder in die regionalen
Besuchskommissionen zur Prüfung der Versorgungsqualität in psychiatrischen Kliniken und
Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern.
Für seine herausragende Tätigkeit gilt Herrn Richter höchste Anerkennung. Diese ist ihm
auch mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse zuteil geworden. Er hat die
individuelle Krisensituation in seiner Familie als Chance genutzt, um für viele und mit vielen
Mitbürgern ein Netzwerk der Selbsthilfe zu knüpfen. Dies trägt in vielfältiger Weise auch
gesellschaftliche Früchte.
Ich erinnere mich gern an die vielen persönlichen Begegnungen und herzlichen Gespräche.

Professor Dr. Peter Stolz