Johann Friedrich Sprotte

von

Prof.  Dipl.-Ing. Hans Müller

 

Johann Friedrich Sprotte
Stadtbaurat in Rathenow 1909 - 1931 (1. Teil)

Hans Müller

Am 1. November 1909 wurde Johann Friedrich Sprotte in der Stadtverordne­tenversammlung Rathenows als neu gewählter Stadtbaurat in sein Amt eingeführt. Er wurde mit Ansprachen des Bürgermeisters Lindner und des Stadtverordneten-Vorstehers Heidepriem begrüßt, für die er sich bedankte und dann mit folgenden Worten fortfuhr:

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J. Fr. Sprotte Foto: Autor

„... Ich verspreche Ihnen ..., dass ich meine Stellung nicht so bald zu verlassen gedenke, um mich nach einem anderen Amte umzusehen. Ich gedenke, in Rathenow einige sichtbare Zeichen meiner Tätigkeit zu hinterlassen und die übernommenen Arbeiten zu Ende zu führen. Meine Herren, es ist das Schicksal des Baumeisters nach einem alten Sprichwort: "Wer da bauen will Straßen, muss die Leute reden lassen." Ich gedenke auch hier jeden reden zu lassen, mich aber nach ihren Reden auch zu erkundigen; denn es ist nicht ausgeschlossen, dass ich durch das Reden auf einen bes­seren Gedanken kommen könnte. Wenn Sie an meiner Tätigkeit Ausstände zu haben meinen, so greifen sie mich ruhig an. So wie ich gelernt habe zu arbeiten, habe ich auch gelernt mich zu wehren. Ich denke niemanden seine Meinung zu verargen oder zu verkümmern, ich werde mich schon verteidigen, wenn ich anderer Meinung bin. ..."

Sprotte wusste, wovon er sprach. Nach dem Abschluss seines Studiums im Hochbaufach an der Technischen Hochschule in Berlin und ersten Tätigkeiten als Regierungs-Bau­führer und Regierungs-Baumeister in Westpreußen hatte er neun Jahre als Stadtbaurat und Vorsteher des Stadtbauamtes in Kolberg an der Ostsee gearbeitet. Kolberg war als Stadt mit Rathenow vergleichbar. Sprotte brachte also für seine zukünftigen Aufgaben in Rathenow einschlägige Erfahrungen mit. Mit der Versicherung, dass er sein Amt nicht so bald zu verlassen gedenke, gab er den Rathenowern ein Versprechen, das er getreulich gehalten hat. Erst der Tod hat ihn im Jahr 1931 mitten aus der Arbeit heraus aus seinem Amt in Rathenow entlassen. Im Jahr 1909 hatten die Rathenower in diesem Punkt Bedenken, denn der Amtsvorgänger – Baustadtrat Brugsch –, in den große Erwartungen gesetzt worden waren, hatte sich bereits nach zwei Jahren nach Spandau erfolgreich wegbeworben. Man befürchtete, dass wegen der in Berlin höheren Gehälter auf die Neuausschreibung der Stelle keine überzeugenden Bewerbungen eingehen würden.

Sprotte hatte sein Studium an der Technischen Hochschule in Berlin mit Auszeichnung und einer zusätzlichen Silbermedaille im Schinkel-Wettbewerb im Jahr 1900 mit der Zweiten Hauptprüfung abgeschlos­sen und verfügte nun im Alter von 37 Jahren auch bereits über reiche praktische Erfahrungen. In seiner Jugend war er an hartes und zielstrebiges Arbeiten gewöhnt worden. Sein Vater war infolge einer Kriegsverletzung aus dem Krieg 1870/71 frühzeitig 1875 gestorben. Seiner Mutter war von sieben Kindern nur dieser eine Sohn geblieben; ein in jener Zeit durchaus nicht seltenes Schicksal. Auch dieser letzte Sohn erkrankte an den schwarzen Pocken, was ihn fast das Augenlicht kostete. Die Ärzte konnten ihm schließlich ein eingeschränktes Sehvermögen erhalten.

Mutter Sprotte war eine sehr energische Frau. Es gelang ihr, ihrem Sohn den Besuch des Gymnasiums in Arendsee (Altmark) und dann den Besuch der Technischen Hochschule in Berlin zu ermöglichen. Sie richtete zuerst in Seehausen in der Altmark und dann in Berlin Schülerpensionate ein, mit denen sie ihren Lebensunterhalt sicherte. Ihr Sohn hat in dieser Zeit auch zum Unterhalt beigetragen, indem er den Pensionatsgästen Nachhilfeunterricht gab.

Die Rathenower hatten nun doch einen überzeugend erscheinenden Bewerber gefunden. In der Auswahl von 56 eingegangenen Bewerbungen zog Sprottes Bewerbung 29 von 30 Stimmen der Stadtverordneten auf sich. Die Stadt Rathenow wartete mit einer Fülle von Projekten. Friedrich Sprotte stand an der Schwelle zu seiner Lebensaufgabe.

Flussbadeanstalt

Laufende Projekte mussten abgeschlossen werden, als da waren die Abrechnung für die neu erbaute Lange Brücke, die Fertigstellung des Offizierskasinos und die Fortführung der Kanalisationsanschlüsse. Auf dem Grundstück der Hagenschule sollte eine Turnhalle erbaut werden, wofür die ersten Aufträge vergeben worden waren. Unabhängig davon befasste sich Sprotte sofort mit größeren Projekten.

Die Flussbadeanstalt war vermutlich das erste Bauvorhaben Rathenows, das vollständig von Sprotte sowohl entworfen als auch unter seiner Leitung gebaut worden ist. Schon bevor Sprotte im Jahr 1909 seinen Dienst in Rathenow antrat, wurde in der Stadtverordnetenversammlung die Erneuerung der Badeanstalt nördlich der Hohen Brücke beschlossen. Als im September 1909 gefragt wurde, wann denn nun der Beginn des Baus zu erwarten sei, antwortete Bürgermeister Lindner,

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Flussbadeanstalt am alten Schleusengraben / Havel

„der neue Stadtbaurat Sprotte sei Spezialist auf diesem Gebiete, deshalb wolle man seine Ankunft in Rathenow zunächst abwarten" - Sprotte war ja in seiner ersten kommu­nalen Stellung in dem Seebad Kolberg tätig gewesen.

Am ursprünglichen Standort plante das Königliche Wasserbauamt Maßnahmen zur Havelregulierung, außerdem dachte man im Magistrat an die Anlage eines Umschlag­hafens, für den das Gelände frei gehalten werden sollte. Für die neue Badeanstalt wurde deshalb ein Bauplatz südlich der Hohen Brücke am Alten Schleusengraben (Kleine Arche) gewählt.

Genau betrachtet wurden zwei getrennte Bäder gebaut. Die Anlage war strikt in Bereiche für weibliche und männliche Badegäste unterteilt, zwischen denen ein 15 m breiter Streifen angeordnet war, der von den Badegästen nicht betreten werden durfte. Ein zentrales Fachwerkgebäude fügte die beiden Badeanlagen zu einer Einheit zusammen. Hier waren die Restauration und Wohnräume für den Bademeister unter­gebracht. Die Anlage wurde 1913 als „Kaiser-Wilhelm-Bad" eröffnet und nach dem Krieg schlicht in „Flussbadeanstalt" umbenannt.

Jederitzer Brücke

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Jederitzer Brücke als Klappbrücke 1902 (Archiv Thonke)

Bereits seit einiger Zeit wurde ein Umbau oder Neubau der Jederitzer Brücke geplant. Anstelle der vorhandenen Klappbrücke sollte eine feste Brücke geschaffen werden; das Vor­haben war aber zurückgestellt worden. Die Wasserbaubehörden drängten jedoch auf Ersatz und verlangten im Interesse der Schifffahrt einen Neubau mit erheblich erweitertem Profil. Man entschied sich für den Bau einer Hubbrücke, da eine feste Brücke wegen der Höhenlage des Straßenniveaus und des Verkehrs in der Jederitzer Straße nicht ausführbar erschien. Die Umbauarbeiten wurden im Lauf des Jahres 1912 aufgenommen. Die Fertigstellung musste aber immer weiter hinausgeschoben werden, weil die offenbar nicht ausgereifte Konstruktion der Hubmechanik nicht funktionie­ren wollte. Sie war im Auftrag des die Brücke erbauenden Unternehmens von einer Berliner Maschinenbaufirma hergestellt worden. Im Januar 1913 wurde die Brücke provisorisch für den Fuhrwerksverkehr freigegeben, da der Schifffahrtsverkehr bis zum März gesperrt war. Fehlerhaft bemessene Bauteile waren auszutauschen. Als das geschehen war, wurden in den letzten Februartagen Hubversuche durchgeführt, die auch erfolgreich zu sein schienen, als plötzlich eine Hubkette brach und die Brücke in ihr Liegelager zurückfiel. „Bis auf weiteres" musste wiederum der Fuhrwerksverkehr gesperrt werden - und das zog sich bis in den April hinein!

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Jederitzer Brücke als Hubbrücke 1930 (Archiv Thonke)

Die Jederitzer Brücke blieb ein neuralgischer Punkt im Verkehr der Stadt Rathenow. Immer wieder traten Störungen auf. Mal blieb der elektrische Strom für den Antrieb aus, ein anderes Mal vermutete man, der Brückenwärter habe den Mechanismus nicht richtig gepflegt.

Im Juni 1914 brach ein Kettenrad und eines der Gegengewichte stürzte ab. Als nun ein Jahr später ein Stadtverordneter fragte, was denn nun mit der Jederitzer Brücke werden solle, musste der Stadtbaurat ihm antworten, dass diese erst nach Beendigung des Krieges ordnungsmäßig hergestellt werden könne, da der für die Anfertigung der Ersatzteile erforderliche Nickelstahl von der Regierung zu wichtigeren Zwecken be­schlagnahmt worden sei.

Und so kam es auch: Im Juli 1919 konnte Sprotte bekannt geben, dass die Jederitzer Brücke in Rathenow, die infolge Zerreißens einer Aufzugskette schon während der ganzen Kriegszeit auf Wiederherstellung wartete, „in Bälde" wieder voll gebrauchsfähig hergestellt werden könne. Sie blieb aber ein „Schmerzenskind" der Stadt, wie 1924 in der Zeitung zu lesen war, als berichtet wurde, dass nach einigen Jahren recht guten Funktionierens wieder das „Verhängnis" eintrat, dass an einer Kette ein Glied riss und die Brücke in eine schiefe Lage brachte.

Stadtschleusenbrücke

1911 erarbeitete Sprotte Pläne zum Neubau der Stadtschleusenbrücke. Die Berli­ner Straße sollte in gerader Linie über die Brücke führen, die eine höhere Tragkraft erhalten, breiter werden und mit breiten Fußgängersteigen ausgestattet werden sollte. Allerdings musste das Niveau der Fahrbahn um etwa einen Viertel Meter angehoben werden, da wegen der erforderlichen Durchfahrtshöhe die Verstärkung des Tragwerks nicht nach unten gelegt werden konnte. In der Folge mussten auch die Brückenrampen angehoben werden, worauf Sprotte in der Stadtverordnetensitzung im Juli 1911 auch hinwies, in der das Projekt vorgestellt wurde. Diese Anrampung führte dann aber zu einer tiefgehenden Missstimmung zwischen dem Magistrat und den Stadtverordneten. Der ursprüngliche Hinweis Sprottes war offensichtlich in seiner Konsequenz nicht richtig wahrgenommen worden.

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Die höher gelegte Stadtschleusenbrücke (Zeitgenössische Postkarte)

Der Neubauentwurf musste mit dem Wasserbauamt abgestimmt werden und es wurde, wie nicht anders zu erwarten war, über Änderungswünsche verhandelt. Schließ­lich lagen die Pläne auf dem Tisch des Zweiten Bürgermeisters Dr. Hagen, der die baupolizeiliche Genehmigung zu erteilen hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren offenbar die beiden anderen Verantwortlichen – der Erste Bürgermeister und der Stadtbaurat – nicht erreichbar und Dr. Hagen unterschrieb. Als die Bauarbeiten vorangingen und die neuen Rampen erkennbar wurden, gab es große Aufregung. Man glaubte, dass die höheren Rampen für die anliegenden Hausbesitzer Nachteile mit sich bringen könnten und fragte nun, wer dafür verantwortlich sei. Aus diesem Anlass wurde eigens eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung einberufen. Seitens des Magistrats wurde irrtümlich darauf verwiesen, dass nach einem Entwurf des Wasserbauamtes ge­baut worden sei. Bald stellte sich aber heraus, dass ein Entwurf Sprottes die Grundlage war. Einige Stadtverordnete glaubten nun, Verfehlungen des Magistrats erkennen zu müssen und verlangten Eingeständnisse. Die beiden Bürgermeister räumten auch ein, dass ihnen Irrtümer unterlaufen seien, Sprotte aber verwies kühl auf seine Zeichnung aus dem Jahr 1911, aus der die Anrampung ersichtlich sei. Man muss Sprotte Recht geben, denn es liegt tatsächlich ein Zeitungsbericht aus dem Jahr 1911 vor, in dem Sprottes frühzeitiger Hinweis auf die Anrampung bestätigt wird.

Wie hatte Sprotte bei seiner Amtseinführung gesagt? „Wer da bauen will Straßen, muss die Leute reden lassen." Die Stadtverordneten hatten vielfältige Interessen zu vertreten, während ihnen im Magistrat Fachleute gegenübersaßen, die die Verantwortung für die gefassten Beschlüsse zu übernehmen hatten. Sprotte war auf diese Spannungen eingestellt. Die Zukunft sollte für ihn noch härtere Proben bereithalten. Als im Juni 1914 die Abrechnung zum Neubau der Stadtschleusenbrücke vorgelegt wurde, bei der ein kleiner Rest nicht verbrauchter Mittel verzeichnet werden konnte, waren die Vorwürfe vergessen. Das Jahr 1914 brachte ganz andere Themen an die Oberfläche; die Deutschen ahnten noch nicht, welches Schicksal auf sie wartete.

Städtisches Lyzeum

Die Stadtverordneten hatten auf Anregung des Ersten Bürgermeisters Lindner bereits im Mai 1909 die grundsätzliche Zustimmung zu einem Neubau für die hö­here Mädchenschule gegeben. Einige Monate darauf wurde diese Schule als „höhere Lehranstalt für die weibliche Jugend" anerkannt; was die Attraktivität dieser Schule nicht unwesentlich erhöhte. Die Absolventinnen konnten nun ohne Umstände in Lehrer-Seminare und entsprechende andere Ausbildungsmöglichkeiten eintreten; die höhere Mädchenschule wurde seitdem „Städtisches Lyzeum" genannt.

Sprotte befasste sich umgehend mit diesem Neubauprojekt und legte bereits 1911 erste Entwürfe vor, die in der Stadtverordnetenversammlung kontrovers diskutiert werden. Der Entwurf wurde als zu großzügig empfunden, statt der Inanspruchnahme von drei Grundstücken in der Schleusenstraße könne der Bau auf zwei Grundstücke beschränkt bleiben, man brauche doch keine von der Turnhalle getrennte Aula und eine eingeschlossene Direktorenwohnung sei ganz und gar entbehrlich. Der Erste Bürger­meister befürwortete den Entwurf ausdrücklich: „... damit könne auch etwas für etwa hundert Jahre geschaffen werden; und für eine so lange Zeit müsse ein solcher Bau auch genügen." Sprotte wies darauf hin, dass die Wünsche der Regierung berücksichtigt werden müssten, wenn man auf einen Staatszuschuss rechnen wolle: „Das sei in dem vorliegenden Entwurf geschehen. Er habe keine Arbeit für den Papierkorb machen wollen."
Mit dem Argument „... der Entwurf sei gut, aber nur zu teuer" wurde die Vorlage abgelehnt, man wollte noch ein zweites Projekt sehen. Eine Besprechung mit dem Dezernenten des Provinzialschulkollegiums und der Schulhausneubaukommission bestätigte die Auffassung des Magistrats. Dennoch wurde weiter mit sehr gegensätzlichen Argumenten diskutiert. Schließlich setzte sich die Einsicht durch, dass ein anderer, geeigneter Bauplatz für das Lyzeum als in der Schleusenstraße nicht zu finden sei. Sprotte stellte fest: „Sie kommen zurück auf meinen ursprünglichen Vorschlag...". Die Magistratsvorlage auf Beibehaltung des Bauplatzes in der Schleusenstrasse wurde mit knapper Mehrheit angenommen.
Die Diskussionen um dieses Neubauprojekt waren damit noch längst nicht beendet, doch im Dezember 1911 wurde die Vorlage des Magistrats endgültig und nunmehr einstimmig angenommen. Diese seinerzeit sehr lebhaft in der Stadtverordnetenversammlung geführten Diskussionen sind sicherlich vor dem Hintergrund zu sehen, dass für den Besuch des Lyzeums ein nicht unerhebliches Schulgeld in Höhe von 100 bis 150 Mark jährlich je nach Schulklasse zu entrichten war. Das konnte sich nur eine begrenzte Zahl von Bürgern in der damaligen Zeit leisten. Der kritische Unterton bezog sich auf den Widerspruch, dass für eine Gruppe von Mitbürgern, die über ein hinreichendes Einkommen verfügen konnten, nun auch noch erhebliche öffentliche Mittel aufgewandt werden sollten.

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Das ehemalige Städtische Lyzeum, die heutige Oberschule „J. H. A. Duncker“
(Foto Verfasser)

Im Lauf des Jahres 1912 wurde mit dem Bau begonnen, der am 4. November 1913 eingeweiht werden konnte.

Entwurf zum Neubau einer weiteren evangelischen Kirche

Im Juli 1912 wurde Sprotte auch in den Vorstand des Evangelischen Kirchbauvereins gewählt. Er hatte einen Plan für den Bau einer neuen Kirche in Rathenow entworfen, der lebhaftes Interesse und einmütige Zustimmung fand. Man beschloss, sich um Mittel für die Ausführung des Kirchbaus zu bemühen. Im Kriegsjahr 1916 wurde das Vorhaben noch einmal in der Zeitung erwähnt. Zu dieser Zeit war bereits etwa ein Viertel der erforderlichen Mittel verfügbar und man war noch sehr zukunftsfroh, dass der Bau einer Lutherkirche seinen Weg gehen werde. Der Ausgang des Krieges mit der darauf folgenden Notzeit machte diesen Plan zunichte.

Planung einer Gartenstadt auf dem Weinberg
– Bismarckturm

Die Stadt Rathenow konnte wohl nicht direkt „reich" genannt werden, doch pro-sperierende Gewerbebetriebe mit dem Schwerpunkt in der optischen Industrie verliehen eine wirtschaftliche Sicherheit, die die Stadtväter mit Vertrauen in die Zukunft blicken ließ. Der Erste Bürgermeister Lindner entwickelte seit seinem Amtsantritt im Jahr 1907 frühzeitig Ideen, wie Rathenow erweitert und ausgebaut werden könnte.

Im September 1909 wurde von Bredow zum Leiter des Kreises Westhavelland bestellt, nachdem er das Landratsamt bereits seit dem Frühjahr kommissarisch übernommen hatte. Von Bredow hatte sich den Plänen Lindners aufgeschlossen ge­zeigt. Und mit dem neuen Stadtbaurat Sprotte hatte Lindner einen fähigen Fachmann gewonnen, der diese Ideen begeistert aufnahm und umsetzte.

Im Jahr 1909 oder 1910 muss im Magistrat ein Beschluss gefasst worden sein, dem zu Folge auf dem Weinberg ein neuer Stadtteil als Gartenstadt geplant werden sollte. Sprotte hat sich vermutlich schon seit 1910 mit dieser Aufgabe befasst; je­denfalls wurde ein Bebauungsplan für den Weinberg im September 1911 von einer Regierungskommission aus Potsdam einstimmig gebilligt. In der letzten Versammlung im Jahr 1911 wurde der Plan den Stadtverordneten vorgelegt, die dem Projekt „unter lebhaftem Beifall" und der Feststellung, „dass die Bürgerschaft dem Herrn Ersten Bürgermeister und dem Herrn Stadtbaurat Dank schulde ..." die Vorlage einstimmig annahmen. Zentrum des geplanten Stadtviertels sollte ein Aussichtsturm sein, von dem zu diesem Zeitpunkt bereits als selbstverständlich festgestellt wurde, dass es ein „Bismarckturm" sein sollte.

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Plan (Ausschnitt) des auf dem Weinberg projektierten neuen Stadtteiles
(Kreisarchiv Friesack)

In vielen Orten Deutschlands wurde schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts Bismarck als Gründer des Deutschen Reiches durch die Errichtung von Bismarcktürmen gewürdigt und geehrt. In Rathenow hatte sich auf Initiative von Dr. Heise und dem Verleger Max Babenzien in Bismarcks Todesjahr 1898 ein Bismarck-Denkmalsausschuss gebildet. In den folgenden Jahren mangelte es aber an den erforderlichen Mitteln, um ein würdiges Denkmal oder gar einen Turm errichten zu können.

1909 wurde in Rathenow ein Heimatverein gegründet, bei dessen Eröff­nungsveranstaltung Lindner die Aufmerksamkeit sofort auf das Thema „Bismarck" lenkte. Er legte den Vereinsmitgliedern eine Kopie des Ehrenbürgerbriefes der Stadt Rathenow vor, der 1875 Bismarck überreicht worden war.

Im Frühjahr 1910 entwickelte sich in Rathenow eine zunächst kontroverse Diskussi­on um die Errichtung eines Bismarck-Denkmals. Ein „vermögender alter Rathenower" hatte sich bereit erklärt, den Denkmalfonds um die zur Errichtung eines Denkmals noch fehlenden Mittel aufzustocken. Der „alte Rathenower" war Kommerzienrat Goerz, der in Berlin-Friedenau die florierenden Goerz-Werke betrieb. Goerz präzisierte sein Angebot alsbald dahingehend, dass er der Stadt ein Bismarck-Standbild stiften wollte, das von einer Bildhauerin aus seiner Verwandtschaft geschaffen werden sollte. Die Rathenower sollten die Kosten für den Unterbau des Denkmals übernehmen.

Zwei gegensätzliche Auffassungen trafen nun aufeinander. Auf der einen Seite meinte man, dass ein Turmbau auf dem Weinberg zu teuer sei, deshalb solle das offerierte Denkmal in der Stadt aufgestellt werden. Der Bismarck-Denkmalsausschuss, dem sich Sprotte umgehend angeschlossen hatte, verstärkte angesichts der Pläne Lindners seine Bemü­hungen, für die Aufstellung des Denkmals auf dem Weinberg in Verbindung mit der Errichtung eines Turmes zu werben. Bereits im April 1911 erschien ein Aufruf in der Rathenower Zeitung, in dem mitgeteilt wurde, dass die Errichtung eines Turmes als Ehrendenkmal für Otto von Bismarck auf dem Weinberg geplant sei. Und weiter: Ein Entwurf sei vorhanden, der „in pietätvoller Weise an die kunstvollen Bauformen des märkischen Backsteinbaues, insbesondere an Tangermünder Motive anknüpft". Mit diesem Aufruf warb der Bismarck-Denkmal-Ausschuss um Spenden.

An diesem Aufruf ist bemerkenswert, dass ein Entwurf bereits vorlag. Sprotte hatte sich umgehend dem Denkmalsausschuss angeschlossen und hatte sogar mehrere Entwürfe angefertigt, von denen nach lebhaften Diskussionen – von deren Inhalt heute leider nichts mehr bekannt ist – einer ausgewählt worden war.

Das Ergebnis dieser Diskussionen ist aber mit dem Hinweis auf „die kunstvollen Bauformen des märkischen Backsteinbaues, insbesondere Tangermünder Motive" nachvollziehbar. In den folgenden Monaten wurde sehr deutlich der Gedanke herausgearbeitet „Bismarck ist ein Märker! Bismarck ist einer von uns!" Mit der Gestaltung des Turmes sollte auf die geschichtlichen Wurzeln der Mark Brandenburg verwiesen werden, aus denen nicht nur das Geschlecht der Bismarcks hervorgegangen war, sondern eben auch die Stadt Rathenow, deren Wahlmänner Bismarck zum Einstieg in seine politische Laufbahn verholfen hatten!

Nachdem die Stadtverordnetenversammlung den Bebauungsplan für den Weinberg angenommen hatte, sollte in einer Versammlung am 21. Mai 1912 der Bürgerschaft Gelegenheit zu Meinungsäußerungen gegeben werden. Obwohl die Versammlung bei weitem nicht so gut besucht war, wie man sich erhofft hatte, kann sie als Abschluss der Vorgeschichte des Bismarckturms gelten. Sprotte hatte der Versammlung seinen Entwurf erläutert, wobei er betonte, dass er sich nicht zur Anfertigung von Skizzen gedrängt habe, sondern dass ihm das vom Denkmals-Komitee angetragen worden sei. In einer schließlich angenommenen Resolution wird formuliert „Die ... öffentliche Bürgerversammlung ... beschließt, dass das ... gestiftete Denkmal ... seinen Stand auf dem Weinberg erhält, und dass hiermit ein Aussichtsturm verbunden wird. Die Versammlung ... erwartet, dass ein Entwurf des Herrn Stadtbaurats Sprotte ... zur Ausführung gelangt.". Dieses Votum ist bis zur Einweihung des Bismarckturms öffentlich nicht mehr infrage gestellt worden.

Der Spendenaufruf des Bismarck-Denkmalsausschusses stieß auf ein großes Echo. Auch die Stadt stellte nennenswerte Beträge zur Verfügung. Schließlich standen genügend Mittel bereit, so dass am 1. April 1913 der Grundstein gelegt werden und im folgenden Jahr am 24. Juni 1914 eine großartige Einweihungsfeier stattfinden konnte.

Die Entstehung des Turmes ist damit ein Gemeinschaftswerk, an dem alle Schich­ten der Bevölkerung der Stadt Rathenow und des Kreises Westhavelland mitgewirkt haben. Beginnend mit der Architektenleistung, die Sprotte unentgeltlich beisteuerte, gingen seit dem ersten Aufruf vom 12. April 1911 bis zur Einweihung am 24. Juni 1914 zahllose kleinere und größere Einzelspenden ein und lang ist die Liste der Handwerker und Firmen, die mit Sachspenden und kostenlosen Leistungen beigetragen haben. Insgesamt wurden die Baukosten – ohne die Kosten für das Standbild – mit rd. 30.000 Mark angegeben.

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Einweihung des Bismarckturmes am 24. Juni 1914 (Foto Wilhelm)

Der Bismarckturm ist zu einem Wahrzeichen der Stadt Rathenow geworden. Mit einigem Glück, aber auch nicht zuletzt wegen seiner soliden Bauweise, hat er das Ende des Zweiten Weltkrieges überstanden und wer die „kunstvollen Bauformen des märkischen Backsteinbaues" zu lesen vermag, dem öffnet dieses Bauwerk den Blick in die märkische und die deutsche Geschichte.

Erster Weltkrieg – Kriegsausschuss

Nur wenige Tage nach der Einweihung des Bismarckturmes gaben die Schüsse in Sarajevo das Signal zu einem damals nicht vorstellbaren furchtbaren Bruch in der deutschen Geschichte. Seit der Kriegserklärung am 28.Juli 1914 konnten in Rathenow zukunftsträchtige Vorhaben nicht mehr in Angriff genommen werden. Im Herbst 1915 wurde der Stadtverordnetenversammlung von Sprotte noch ein Entwurf für ein Armenheim vorgestellt, der zwar mit Beifall einstimmig beschlossen wurde, doch auf eine Frage bezüglich des Baubeginns folgte der Bescheid, dass während des Krieges nicht daran gedacht werde.

Im Jahr 1915 wurden auch die Pläne für das Gartenviertel schön gezeichnet abge­schlossen und zu den Akten gelegt, wo sie auch verblieben sind. Man konnte in diesem Jahr wohl noch der Meinung sein, dass der Krieg bald – natürlich siegreich! – beendet sein würde, doch es folgte ein Kriegswinter nach dem anderen. Der Magistrat musste sich zunehmend mit den Versorgungsproblemen der Stadt befassen. Während auf den Titelseiten der Zeitungen Erfolgsmeldungen von den Kriegsschauplätzen zu lesen waren, füllten sich die Zeitungsspalten unter der Rubrik „Local-Nachrichten" zunehmend mit Berichten und Hinweisen über „Apfelverkauf", „Butter- und Speckverkauf" usw., die auch Hinweise der Art „... da bekanntlich der Fleischverkauf Dienstags und Freitags untersagt ist..." enthielten.

Eine rigorose amtliche Bewirtschaftung setzte ein, mit der praktisch alle Lebens- und Futtermittel sowie Materialien jeder Art erfasst wurden. Die Zeit der „Brotstreckung" begann, die den damals Lebenden als „Kohlrübenwin­ter" in der Erinnerung geblieben ist. Die Kommunen mussten die Versorgung ihrer Einwohner offensichtlich weitgehend in eigener Regie organisieren. Für Rathenow wurde ein „Kriegsausschuss" eingerichtet, der für die Bereitstellung und Verteilung von Lebensmitteln, Kohlen usw. zuständig war.

Sprotte hatte die Leitung der Kohlen­ausgleichsstelle übernommen und musste sich mit der Frage befassen, wie eine sozial gerechtfertigte Verteilung des nur begrenzt verfügbaren Brennmaterials bewerkstelligt werden könnte. „Gespart müsse werden" war in der Stadtverordnetenversammlung zu hören, doch „Das Wie sei eine schwer zu lösende Frage." Hinzugesetzt wurde aber „Festgestellt müsse werden, es sei bisher richtig und vorsorglich gearbeitet."

Sprotte hatte sich als Dezernent auch um die Versorgung mit Fleisch und Wurst zu kümmern. Hier ging es um Fragen wie z.B. die, ob man Rüstungsarbeitern eine Wurstzulage gewähren oder darauf verzichten solle, wenn man stattdessen die allgemei­ne Fleischportion um 25 Gramm heben könnte. Im Sommer 1918 wurde schließlich die Kühlanlage im Schlachthof defekt, so dass nur noch die Kunden Fleisch erhalten konnten, die es sofort nach der Schlachtung abholten.

Milchzentrale

Um eine einigermaßen ausreichende Versorgung der Rathenower Bevölkerung mit Milch zu sichern, beschloss der Magistrat 1916 eine Molkerei in der Stadt zu erbauen. Mit dieser Maßnahme sollte erreicht werden, dass die Bauern aus der Umgebung ihre Milch an die neue Molkerei zu liefern hatten. Der Bau konnte im Oktober 1917 fertig gestellt und der Betrieb als „Milchzentrale" aufgenommen werden. Die Rechnung des Magistrats ist offenbar aufgegangen, denn im Sommer 1918 war eine Revisions­kommission der Ansicht, dass Rathenow im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl zu reichlich mit Milch beliefert werde. Im Kriegsausschuss wurde hierzu festgestellt, dass diese Behauptung zahlenmäßig zu widerlegen sei.

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Teilansicht der im ersten Weltkrieg erbauten Milchzentrale in der Mühlenstraße mit ihrem Wagenpark .Im Hintergrund die St.-Marien- und Andreaskirche
(Foto Rathenow, Dari-Verlag 1930)

Ende des 1. Weltkrieges

Am 9. November 1918 entdeckte man in der rechten unteren Ecke der Titelseite der Rathenower Zeitung unter „Neueste Nachrichten" eine Meldung von wenigen Zeilen: Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen. Am 10. November folgte die Mitteilung, dass Deutschland die rigiden Waffenstillstandsbedingungen der Alli­ierten angenommen hatte. Eine Epoche der Deutschen Geschichte war im Strudel eines barbarischen Krieges untergegangen. Die Geschichtsbücher verzeichnen, dass insgesamt über zwei Millionen deutsche Soldaten den Tod gefunden hatten.

Der Erste Weltkrieg ist vorüber
– das Leben in Rathenow geht weiter

Das Ende des Ersten Weltkrieges mündete in Deutschland in eine Revolution, die überraschend schnell zu einer neuen Konstitution des Deutschen Reiches als demo­kratischer Republik führte, aber im Gegensatz zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Verwaltungsstrukturen nicht veränderte. In Rathenow blieb der Magistrat mit dem Oberbürgermeister Lindner, dem Bürgermeister Dr. Hagen und dem Baustadtrat Sprotte im Amt. Noch kurz vor dem Kriegsende war Lindner von der Stadtverordne­tenversammlung einstimmig auf Lebenszeit in seinem Amt bestätigt worden. Es blieb der Naziherrschaft vorbehalten, ihn aus seinem Amt zu verjagen.

Wer die Zeitungen aus diesen Jahren durchblättert, wird dem Magistrat und den Stadtverordneten Rathenows anrechnen müssen, dass die Stadt trotz gelegentlicher polemischer Debatten in der Stadtverordnetenversammlung erfolgreich durch die schweren Nachkriegsjahre geführt wurde.

Sprotte hatte nicht nur die Mangelzustände der Kriegszeit unmittelbar durch seine Tätigkeit im Kriegsausschuss erfahren, ihn hatte im letzten Kriegsjahr mit dem plötz­lichen Tod seiner Frau auch ein persönlicher Schicksalsschlag getroffen. Die Vorkriegs­zeiten, in denen größere Projekte – wie etwa der Schulneubau in der Schleusenstraße oder schließlich der Bismarckturm – die Alltagsarbeiten im Bauamt befruchteten, waren vergessen. Mit beschränkten Mitteln konnten nur die notwendigsten Arbeiten erledigt werden.

Sprotte hat die politischen Diskussionen dieser Zeit aufmerksam verfolgt. Ihm war bewusst, dass etwas Neues im Werden war, woran er aktiv teilnehmen wollte. Er schloss sich der Deutschen Volkspartei an – wie übrigens auch Oberbürgermeister Lindner – und wurde im Januar 1919 in die Kandidatenliste für die Reichswahlen zur Nationalversammlung aufgenommen. Er ist auch in Wahlveranstaltungen aufgetreten, aber das Agieren auf der politischen Bühne lag ihm offenbar nicht. Sprotte entwi­ckelte klare Handlungsabläufe, die unter gegebenen Umständen zu einem dauerhaften Ergebnis führen sollten. Für das Taktieren und die Winkelzüge der Politiker hatte er wenig Verständnis, was ihm gelegentlich in der Rathenower Stadtverordnetenver­sammlung einige Schwierigkeiten bereitete. 1921 wurde er nach Ablauf seiner ersten zwölf Amtsjahre in Rathenow trotzdem mit 21 Stimmen (ohne Gegenstimmen bei 9 Enthaltungen) im Amt bestätigt.

Sprotte, dem in der Zwischenzeit der Titel eines „Oberbaurates" zuerkannt wor­den war, stand dem Stadtbauamt vor, das gemäß des Verwaltungsberichtes der Stadt Rathenow von 1927 in folgende Verwaltungszweige gegliedert war: Hochbauverwal­tung, Tiefbauverwaltung, Kanalisationsverwaltung, Wohnungsamt, Eichamt, Löschhilfe, Baupolizei, Vermessungsamt, Elektrizitätsversorgung.

Wohnungsbau

Der Wohnungsbau war neben dem Straßenbau eine der beiden Grundaufgaben, die Sprotte nach dem Ende des Krieges bis zu seinem Tode unablässig beschäftigten. In Deutschland wurde insgesamt eine ausgeprägte amtliche Wohnungspolitik entwickelt, um die bestehenden sozialen Ungleichgewichte zu mildern. In diesem Rahmen wurden Finanzierungsgrundlagen geschaffen, die lokal in Baumaßnahmen umzusetzen waren. Zahlreiche Vereinigungen und Gesellschaften wurden gegründet, um den Wohnungsbau voranzutreiben, wie z.B. der „Deutsche Kriegssiedlerbund" oder die Gesellschaften „Heimstätte GmbH", „Märkische Heimstätte", „Gemeinnützige Wohnungsfürsorge" u.a..

In Rathenow herrschte in den ersten Nachkriegsjahren eine deutliche Wohnungsnot. Viele Rathenower lebten in sehr beengten Verhältnissen. Die in der Umgebung während des Krieges entstandenen Rüstungsbetriebe hatte viele Arbeitskräfte nach Rathenow gezogen, denn anderweitig war keine Unterkunft zu finden. In der Stadtverordneten­versammlung wurde mehr als einmal von „Wohnungselend" gesprochen. Die begrenzten Mittel wurden an erster Stelle zur Linderung der Wohnungsnot eingesetzt.

Ein Wohnungsausschuss wurde eingerichtet und der Magistrat stellte bereits im Frühjahr 1919 Bebauungspläne für eine Heimstättenkolonie an der Milower Chaussee vor (bekannt als „Südsiedlung"), die von Sprotte bautechnisch bearbeitet worden wa­ren. Hieraus ging die Gründung einer kommunalen Siedlungsgesellschaft hervor. Der „Rathenower Bauverein" begann im April 1919 mit der Errichtung von 34 Wohnungen an der Helmholtzstaße. Gleich darauf im Mai wurde vom Magistrat ein Bebauungsplan für ein städtisches Gelände westlich der Buschstraße vorgelegt, wo eine Siedlung mit einer größeren Zahl von „Einfamilien-Doppelhäusern" mit je einem halben Morgen Gartenland geplant wurde („Nordsiedlung").

Außer diesen größeren Projekten förderte die Stadt den Bau zahlreicher einzelner Mehrfamilienhäuser. Unter anderem wurde bereits 1920 auf dem Heidepriem'schen Fabrikgelände eine ehemalige Ziegeleischeune mit 18 Wohnungen ausgebaut.

Sprotte hatte Programme für den Bau mehrerer hundert Wohnungen ausgearbeitet, doch alle Aktivitäten der Stadt litten unter den Bedingungen der galoppierenden Inflation. So musste z.B. im Sommer 1923 für den Bau eines Wohnhauses in der Nordsiedlung der Kostenvoranschlag von 78 Millionen auf 120 Millionen Mark erhöht werden.

Endlich im November 1923 wurde die Rentenmark eingeführt. Nun konnte wieder vorausschauender geplant werden, doch die Marktwirtschaft brachte eine neue Erfahrung mit sich. War man zu Kaiser's Zeiten stolz darauf gewesen, wenn zur Abschlussrechnung eines Projektes eine Ersparnis oder wenigstens eine nur geringe Überschreitung gegenüber den vorgeplanten Mitteln ausgewiesen werden konnte, so musste Sprotte jetzt regelmäßig in den Stadtverordnetenversammlungen Kostenüber­schreitungen rechtfertigen und bekam viele kritische Bemerkungen zu hören. Natürlich hat man im Bauamt schließlich Reserven für zu erwartende Kostensteigerungen einge­plant, was Sprotte bei der Vorlage neuer Bauprojekte prompt den Vorwurf einbrachte, dass er zu teuer bauen würde. Eine im Jahr 1926 vorgelegter Übersicht der Baukosten zeigte aber, dass in Rathenow die Kosten für einen neu erbauten Kubikmeter Wohnraum vergleichsweise niedriger waren als in vielen anderen deutschen Städten.

Im April 1923 übernahm Sprotte das Dezernat des Wohnungsbauamtes. In dieser Funktion war er seitens der Stadt Rathenow der amtliche Gesprächspartner für alle Wohnungsbauprojekte. Dies trifft insbesondere für die Planung der heutigen Haesler-Siedlung zu; ursprünglich „Neu-Rathenow" genannt.

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Bauarbeiten im Friedrich-Ebert-Ring/Rathenow

Die Stadt hatte hierfür ein 12ha großes Waldgebiet zur Verfügung gestellt, das durch einen neuen Stra­ßenzug - den Friedrich-Ebert-Ring - erschlossen werden sollte. 600 Woh­nungen in einer auch heute noch als vorbildlich geltenden Bauweise sind geplant worden. 1929 wurden die ersten 84 Wohnungen fertig ge­stellt. Dies ist das letzte große Projekt, dass seitens der Stadt von Sprotte mit betreut wurde.

Leider ist nichts darüber bekannt, wie Sprotte die Arbeit des Architekten Haesler eingeschätzt hat – hätte er etwas davon ahnen können, wie rigoros die Planungen Haeslers für Rathenow nach dem Zweiten Weltkrieg ausfallen würden?

Eine Übersicht der bis zum Jahr 1930 erstellten Siedlungsbauten schloss Sprotte mit der Bemerkung ab „Da bisher eine zu spürende Abnahme der Wohnungsnot sich nicht bemerkbar gemacht hat, wird noch viel gebaut werden müssen, bis der Bedarf einigermaßen gedeckt ist".

Straßenbau

In dem Maß, in dem sich das Leben in Rathenow normalisierte und die Beschränkungen der Kriegsjahre überwunden wurden, trat der Öffentlichkeit deutlicher in das Bewusstsein, dass in den Kriegsjahren die Straßen und anderen Einrichtungen der Infrastruktur der Stadt vernachlässigt worden waren. Als im November 1920 in der Stadtverordnetenversammlung der schlechte Zustand von Straßen gerügt wurde, musste Sprotte auf die Kosten hinweisen, die für „das Material [und] die Löhne ins Unermessliche gestiegen seien“. In der Folge wurden immer wieder Klagen über schlechte Straßen vorgetragen. So wurde z.B. im Juni 1921 ein Antrag der Anwohner der Fischerstraße auf „Herstellung eines weniger halsbrecherischen Pflasters“ gestellt. Wenige Monate später beschwerte sich „ein Anwohner der Hauptverkehrstraße“ über „die schweren Lastautos, … die in einer so lebhaften Geschwindigkeit durch unsere Straßen eilen…“, dass er befürchtete, dass sein „in allen Fugen … zitterndes Haus“ eines Tages zusammen brechen könnte. Die Ausführung der Straßen musste der Entwicklung der Wirtschaft und des Verkehrs angepasst werden. Aber auch noch 1926 musste Sprotte erklären, dass die zur Pflasterung von Strassen vorgesehenen Mittel „nicht vorhanden“ seien, mit den verfügbaren Mitteln habe man die Arbeiten ausgeführt, die notwendig waren. In der Stadtverordnetenversammlung herrschte „einschl. dem Magistrat volle Einstimmigkeit über die geradezu fürchterliche Mangelhaftigkeit unserer Straßen“.

Immerhin konnte aber auch über Neupflasterungen berichtet werden, so zu lesen in der Rathenower Zeitung vom 28. Juli 1926: Semliner und Stendaler Straße und in der Altstadt die Marktstraße und ein Teil der Salzstraße wurden mit neuer Pflasterung dem Verkehr übergeben. Den Klagen über schlechte Straßen standen in der Folgezeit durchaus Fortschritte gegenüber.

Die Modernisierung der bestehenden Straßen und der Ausbau des Rathenower Verkehrssystems blieben neben dem Wohnungsbau die Grundaufgaben Sprottes. Verfolgt man die Berichte aus dieser Zeit, so kann man sich dem Eindruck einer Gratwanderung nicht entziehen: Die durch den Krieg bedingten Versäumnisse sollten nicht nur aufgeholt werden, sondern man sah für Rathenow auch ein Entwicklungspotenzial, das zur Geltung gebracht werden sollte.

Im Bauamt wurde an Plänen zur künftigen Weiterentwicklung der Stadt gearbeitet. Einer der ersten Fluchtlinienpläne der Nachkriegszeit, der im Frühjahr 1921 von den Stadtverordneten gebilligt wurde, bezog sich offenbar noch auf den 1915 endgültig genehmigten Bebauungsplan für den Weinberg. Vom Schulplatz sollte eine Verbindungsstraße zum Weinberg und zur Gr. Milower Straße geschaffen werden.

Mit den in den folgenden Jahren von Sprotte vorgelegten Fluchtlinienplänen wird von diesen Vorkriegsplanungen Abschied genommen, für Rathenow werden neue städtebauliche Akzente gesetzt. Mit zwei Fluchtlinienplänen im Jahr 1923 wurden Straßen konzipiert, mit denen die Nord- und die Südsiedlung erschlossen werden sollten.

Bereits 1911 hatte Sprotte die Planung einer neuen „Straße X“ begonnen, die 1913 amtlich abgeschlossen wurde. Zusammen mit der Hobrechtstraße und der Gartenstraße so wie der Curlandstraße sollte eine neue Verkehrsverbindung in einem nordöstlichen Bogen um die Innenstadt herum geschaffen werden, die die Hauptdurchgangsstraße entlasten konnte. Mit dem Ausbruch des Krieges mussten diese Planungen zurückgestellt werden. Sie kamen nun sehr gelegen, als offenkundig wurde, dass der Bedarf an Neubauwohnungen nicht mit einzelnen Bauvorhaben befriedigt werden konnte – Rathenow sollte mit einem neuen Stadtteil wachsen.

Die Verwirklichung dieser Idee setzte allerdings eine grundsätzliche Entscheidung voraus, denn der Rathenower Stadtforst schloss hier unmittelbar an das bis dahin bebaute Stadtgebiet an und es galt als selbstverständlich, dass der Wald erhalten bleiben müsse. Im Ergebnis vermutlich recht lebhafter Diskussionen – leider war darüber bisher nichts weiteres aufzufinden – wurde schließlich beschlossen, ein 12 ha großes Waldstück zwischen dem Komplex des Krankenhauses und der Trasse der Städtebahn für die Errichtung einer Wohnsiedlung zur Verfügung zu stellen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, dieses abseits des bisherigen Stadtgebietes projektierte Neubaugebiet verkehrstechnisch zu erschließen: die Erbauung der „Straße X“ wurde in Angriff genommen.

Um den Straßenbau voranbringen zu können, wurde der Stadtverordnetenversammlung zuzüglich zu bereits aufgenommenen Millionenanleihen die Aufnahme einer weiteren Anleihe in Höhe von 500000 Mark vorgeschlagen. Einzelne Stadtverordnete wollten ihre Zustimmung von der Vorlage eines „genau detaillierten Bauprogrammes“ abhängig machen, im Magistrat war man sich aber über die durchzuführenden Projekte bereits einig geworden und Sprotte sagte: „Zunächst kommt es darauf an, die Anleihe in Ordnung zu bringen. Nachher kommt über jedes Projekt eine einzelne Vorlage!“. Dem Einwurf, dass Schuldenmachen den Steuerzahler belasten und kein Kapital schaffen würde, entgegnete Oberbürgermeister Lindner „aber Werte!“. Der Anleihe wurde am 08.11.1926 zugestimmt.

In einem Zeitungsbericht im Jahr 1926 wurde die projektierte Straße X im Zusammenhang mit der Planung von Schulneubauten erstmalig nach dem Krieg erwähnt. Die Bebauung der westlichen Seite der neuen Straße schritt schon intensiv voran, während die Straße selbst noch im Entstehen war. In der Winterzeit 1925/26 halfen auch viele Erwerbslose freiwillig beim Stubbenbuddeln, die der Stadt mit dieser Arbeit einen Dienst erwiesen und dafür Brennholz erhielten. Das Jahr 1926 brachte eine drastische Zunahme der Erwerbslosigkeit.

Als Fortsetzung der Hobrechtstraße wurde eine „Straße III“ angelegt, die in einen großen neu geschaffenen ovalen Bahnhofsvorplatz mündete. Dieser heute recht großzügig anmutende Platz sollte dem geregelten Betrieb des inzwischen entstandenen Autobusverkehrs dienen. Wie auch bei anderen Projekten wurden hier Mittel bereitgestellt, um Erwerbslose im Rahmen der „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ an den Straßenbauarbeiten zu beteiligen. Sogar die kommunistischen Abgeordneten in der Stadtverordnetenversammlung erkannten an, dass „die hiesige Geschäftswelt große Opfer für die Erwerbslosen bringe“.

Die bestehenden Straßen (Garten-Curlandstraße mit der schon erwähnten Kreuzung Busch-Jägerstraße und Curlandstraße mit der Kreuzung Meierhöfe-Semliner Straße) waren ursprünglich nicht für ein größeres Verkehrsaufkommen angelegt worden. Mit neuen Fluchtlinienplänen wurden sie so gestaltet, dass eine Hauptverkehrsstraße vom Bahnhof bis zur Rhinower Landstraße entstehen konnte. Die Stadt kaufte hierfür in vereinzelten Fällen auch Grundstücke, um im Wege stehende Häuser abbrechen zu können. Weiterhin wurde eine Zufahrt zur Städtebahn und einem geplanten Bahnhof Nord geschaffen, womit die Nordsiedlung gewissermaßen einen eigenen Bahnanschluss erhalten sollte.

Am 1. Oktober 1927 erfuhren die Zeitungsleser, dass die Strasse III mit „Hindenburg-Ring“ und die Strasse X mit „Friedrich-Ebert-Ring“ benannt wurden. Es fällt auf, dass dies kein Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, sondern eine Anordnung der Polizeiverwaltung war.

Gegen Ende des Jahres 1927 konnte in der Rathenower Zeitung getitelt werden „Ein neuer Stadtteil im Werden“. Die Vollendung des gesamten Straßenzuges vom Bahnhof bis zur Rhinower Straße war absehbar, auch die Buschstraße als Zufahrtsstraße zu dem geplanten Nordbahnhof sollte „durch Pflasterung für einen normalen Verkehr brauchbar“ werden. Die Verbindung von der Nordsiedlung zu den südlichen Bahnhöfen war durch den neuen Straßenzug so gut geworden, dass ein Fußgänger von der Gartenstraße in zwölf Minuten die Bahnhöfe erreichen konnte, wie in einer Zeitungsnotiz behauptet wurde. Bereits während der Erbauung der Straße entwickelte sich eine rege Neubautätigkeit auf der Westseite des Friedrich-Ebert-Ringes und man sah voraus, dass bald diese ganze Straßenseite bebaut sein würde. 1929 wurde der Friedrich-Ebert-Ring schließlich gepflastert. Die Vollendung des Straßenzuges bis zum Bahnhof mit der Fertigstellung der Straße III – heute dem Friedrich-Ebert-Ring zugehörig – hat Sprotte selbst nicht mehr erlebt.

Mit dem Friedrich-Ebert-Ring wurde tatsächlich der Impuls für die Entwicklung des Stadtteils Rathenow-Ost gegeben. Letzten Endes muss dies als natürliche Entwicklung angesehen werden, denn Sprotte hatte bei einer kritischen Betrachtung der Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt Rathenow gesehen, dass der Wolzensee mit seinem tiefen Sumpfgebiet einer Bebauung unzugänglich ist. Es erschien ihm selbstverständlich, dass sich die Wohnbebauung der Stadt nach Osten ausdehnen müsste, während sich die industriellen Ansiedlungen zwischen Havel und Wolzensee in südlicher Richtung entwickeln sollten. Die Erweiterung des Stadtgebietes nach Westen wurde noch nicht in Erwägung gezogen.

Die Realisierung des heutigen Straßenzuges Friedrich-Ebert-Ring – Curlandstraße ist die vielleicht bedeutendste stadtplanerische Aktivität, die unter der Leitung Sprottes in Rathenow durchgeführt wurde.

Daneben gab es selbstverständlich mancherlei andere Planungen. Man dachte beispielsweise an den Bau eines neuen Rathauses in der Nähe des kleinen Reitplatzes, in dessen Nachbarschaft ein Stadtpark angelegt werden sollte – es blieben Planungen.

Die Klagen über schlechte Straßenzustände wollten nicht abreißen, doch es konnte auch Straßen modernisiert werden. So wurde 1927 die Milower Straße als erste asphaltierte Straße in Rathenow dem Verkehr übergeben. Nach eingehender Diskussion der Eignung verschiedener Straßenbeläge wurde 1928 die Buschstraße als erste Betonstraße in Rathenow zum Jahresende dem Verkehr übergeben. Außer der verkehrstechnischen Eignung sprach für die Betonierung, dass der Quadratmeter Straßenfläche billiger war als bei anderen Bauarten. In dieser Zeit wurden auch nach und nach die bis dahin an großen Masten über die Straßen führenden elektrischen Leitungen durch Erdkabel ersetzt. Man hoffte, dass bis 1931 „das Leitungsnetz in den Erdboden verschwunden sein“ würde.

Sprotte hatte sich im Zusammenhang mit dem Straßenbau auch um die Bepflanzung der Straßen mit Bäumen zu kümmern. Er bemühte sich darum, dass einzelne Straßenabschnitte mit unterschiedlichen Baumarten ausgestattet wurden. Sorgen bereiteten die kalten Winter jener Jahre, wodurch häufig Nachpflanzungen notwendig wurden.

Zusammenfassend wird man sagen dürfen, dass in dem ersten Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg der Straßenbau in Rathenow doch deutlich vorangetrieben wurde und der Ausbau der Infrastruktur der Stadt mit den sich steigernden Anforderungen des Verkehrs Schritt gehalten hat.

Neubau von Schulen

1924 machte Lindner die Stadtverordneten zum ersten Mal mit dem Plan des Magistrats bekannt, am Turnplatz einen Neubau für eine Knabenvolksschule und eine Hilfsschule zu errichten. Er betonte, es sei eine „Ehrenpflicht der Stadt, dem Bau eine architektonische Ausgestaltung zu geben, damit er sich … wirksam … heraushebe“.

Im Frühjahr 1925 folgte eine ausführliche Vorlage zu den geplanten Schulneubauten. Bereits vor Ausbruch des Krieges war der Bau einer neuen Volksschule geplant worden. Die vorhandenen Schulgebäude reichten nicht aus und die Hilfsschule hatte überhaupt kein eigenes Haus. Ihre Schulräume waren seit dem Kriegsende in einem Kasernenblock untergebracht. Der Vertrag lief aber aus und die Heeresverwaltung drängte auf Rückgabe. Die Räumlichkeiten der Volksschule in der Hagenstraße waren vollkommen veraltet, weshalb ein neues modernes Volksschulgebäude für Knaben geplant wurde. Die Hagenschule sollte dann als Berufsschule eingerichtet werden. Zuerst sollte die Hilfsschule für 7 Klassen und anschließend der Hauptbau für die Volksschule mit etwa 30 Klassen erbaut werden. Eine Turnhalle und eine Aula sollten auch für öffentliche Veranstaltungen und Vereine nutzbar sein.

Die erforderlichen Mittel sollten mit Aufnahme einer „schwebenden Schuld“ bereitgestellt werden. Den Stadtverordneten wurde die Aufnahme einer Anleihe in Höhe von 2,3 Mill. Mark vorgeschlagen, um neben den Schulbauten auch eine Krankenhauserweiterung und den Wohnungsbau finanzieren zu können. Nur wenige Wochen später wurde die Erhöhung der Anleihe auf 2,6 Mill. Mark vorgeschlagen. Die damit gleichzeitig in Angriff genommenen Projekte – Neubauten für die Schulen und für das Krankenhaus – führten in der Folge fast an den Rand eines Kollapses der städtischen Finanzen. Im Hintergrund wird wohl auch der Gedanke gestanden haben, mit diesen Projekten den städtischen Unternehmen Aufträge zu verschaffen.

Im Frühjahr 1926 wurde mit dem Bau der Hilfsschule am Friedrich-Ebert-Ring begonnen. Ein Jahr später konnte sie von Lindner und Sprotte der Schulverwaltung übergeben werden. Es fiel auf, dass erstmals Farbe in die Rathenower Schulräume Einzug gehalten hatte. Mehrfach wurde ausgesprochen, man könne nun im Sinne Pestalozzis „entwicklungsgehemmten Kindern“ eine Ausbildung geben, die es ihnen ermögliche, im Leben auf eigenen Füßen zu stehen, während diese Kinder in anderen Schulen häufig Zurücksetzung erfahren müssten. Die Hilfsschule war aus kleinen Anfängen unter der Leitung von Lehrer Anders entstanden. Zum 100. Todestag Pestalozzis erhielt die Hilfsschule den Namen „Pestalozzi-Schule“.

Anschließend wurde mit dem Bau der Volksschule am Turnplatz begonnen, die als das größte Bauwerk Rathenows zu jener Zeit angesehen wurde.

Zwischen der Pestalozzi-Schule und dem Baukörper der Volksschule wurde eine Turnhalle eingefügt, die mit den Abmessungen von 14x25 m² zur größten Turnhalle in Rathenow wurde. Sie erhielt besondere Zugänge von der Straße zur Nutzung durch Vereine. Als Besonderheit war ihr eine orthopädische Turnhalle angegliedert, die bislang fehlte.

Gegen Ende des Jahres 1927 geriet der Bau ins Stocken. Oberbürgermeister Lindner musste den Fraktionsführern eröffnen, dass die Stadt wegen unfassbar erscheinender Kostenüberschreitungen kein Geld mehr hatte. Hierauf wird im Zusammenhang mit dem Erweiterungsbau für das Krankenhaus zurück zu kommen sein. Der Schulneubau musste stillgelegt werden. In der Stadtverordnetenversammlung lieferte man sich heftige Wortgefechte um die Frage, ob die Schule nicht zu groß und zu komfortabel werden würde. Es fiel das Wort von einer „Universität“ Rathenows. Lindner setzte sich aber durch und 1929 konnte der Bau fortgeführt werden. Die Eröffnung erfolgte vermutlich 1930; in den vorhandenen Zeitungen ist hierüber leider kein Bericht zu finden. Aus heutiger Sicht ist festzustellen, dass die Jahn-Schule – wie sie heute heißt – in dem für die damaligen Jahre kennzeichnenden Stil ein architektonisch bedeutendes Bauwerk in Rathenow darstellt, das auch den gegenwärtigen Ansprüchen vollkommen genügt.

Dieser Schulbau ist wohl das letzte größere Bauwerk in Rathenow, an dem Sprotte gearbeitet hat und dessen Fertigstellung er noch erlebt hat.

Erweiterungsbau für das Krankenhaus

Die erwähnten Anleihen wurde auch mit einer Erweiterung und Verbesserung des Krankenhauses begründet. Zunächst wurden 1925 für das Krankenhaus ein Desinfektionshaus und ein Leichenaufbewahrungshaus neu erbaut, um einerseits modernere Räumlichkeiten zu gewinnen, andererseits aber für eine Erweiterung des Krankenhauses mit dem Abbruch der alten Gebäude Baufreiheit zu schaffen. Ein Jahr später konnte der Beginn von Vorarbeiten für den „ersehnten Bau“ des städtischen Krankenhauses gemeldet werden.

Um die Ausgestaltung des Baus wurde aber noch gerungen. Zur gleichen Zeit wurde vom Magistrat eine Abänderungsvorlage mit der Begründung eingebracht, dass seitens der Regierung die räumlichen Anordnungen als unzulässig angesehen würden. Um keine Zeit zu verlieren, habe man die Änderungen sofort besprochen und „in den Entwurf eingezeichnet“, es stünde „außer Zweifel“, dass die Änderungen „auch die endgültige und formelle Genehmigung der Regierung finden“ würden. Der neue Entwurf hielte sich „nach der Kostenberechnung des Stadtbauamtes durchaus in den Grenzen der bewilligten Mittel“. Die Stadtverordneten wurden dann aber doch mit zunächst moderat erscheinenden Mehrkosten vertraut gemacht, die man an anderer Stelle wieder einsparen müsse. Die Vorlage war in der Abwesenheit Sprottes entstanden, der sich im Urlaub befand.

Über die Vorlage setzte eine „lebhafte Aussprache ein“. Die Stadtverordneten sahen den Zwiespalt, dass für die Kranken und für die Ärzte und Schwestern alles Notwendige geschaffen werden müsse, wofür aber nicht genügend Mittel zur Verfügung standen. Der Stadtkämmerer teilte mit, dass sich die Anschläge für das Krankenhaus seit 1925 von 0,5 Mill. auf 1 Mill. RM erhöht hätten, mehr hätte sich nicht zurückstellen lassen.

Als Sprotte aus seinem Urlaub zurückkehrte, entdeckte er in dem abgeänderten Projekt „einige Kardinalfehler“, die zu beheben waren, was zur Verzögerung des eigentlichen Baubeginns führte. In der Stadtverordnetenversammlung war man „befremdet“, denn man hatte geglaubt, die Planungen seien zufriedenstellend abgeschlossen worden.

In einer eigens einberufenen „dringlichen Sitzung … an Ort und Stelle im städtischen Krankenhause“ erläuterte Sprotte die Fehler, die er in dem ohne seine Mitwirkung aufgestellten Zwischenprojekt gefunden hatte. Sprotte konnte die Stadtverordneten überzeugen. In der Aussprache wurde anerkannt, der von ihm nunmehr vorgeschlagene Entwurf stelle eine Verbesserung dar. Heute fällt aber auf, dass „ein Wunsch hervortrat“, mit einer Unterkellerung zusätzliche Räume zu gewinnen, was Mehrkosten zur Folge haben würde. Der Sitzungsbericht vermerkt schließlich „Der abgeänderte Neubauentwurf wurde nunmehr seitens der städtischen Körperschaften ohne Widerspruch genehmigt“.

Mitte Oktober war endlich zu lesen, dass man „hoffe, dass es nun rasch mit dem Bau voran geht“. Erst im Laufe des Jahres 1929 konnte der Bau mit seinen vielfältigen Einrichtungen endlich seiner Bestimmung übergeben werden.

Doch es wurde ein teurer Bau und man suchte nach einem Schuldigen. Gerüchte über ungewöhnliche Überschreitungen von Baukosten kursierten gegen Ende des Jahres 1927 in der Stadt, bis schließlich in einer Stadtverordnetensitzung am 29.11.27 offenbart wurde, dass sich die Stadt in großen Finanzsorgen befände, die Baukosten hätten einen Mehrbedarf von annähernd 1 Mill. Mark verursacht, von denen allein auf den Krankenhausbau 0,75 Mill. entfielen. Gegen Sprotte, den verantwortlichen Leiter des Bauamtes wurden schwere Vorwürfe erhoben. Einstimmig wurde beschlossen, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Sogar die sofortige Dienstentlassung Sprottes wurde beantragt, man erwartete mindestens seinen freiwilligen Rücktritt.

Sprotte wies jede Verantwortung von sich. Er hatte gegen sich selbst ein Disziplinarverfahren beantragt, das aber von der Regierung abgelehnt worden war.

Die Hintergründe dieses Vorganges sind zu erahnen, wenn man liest, dass der Stadtverordnete Dr. Schäfer, ein Krankenhausarzt, zwar meinte, dass z.B. die Gartenanlagen „durchaus unerwünscht seien“, dass aber der Erweiterungsbau, der eigentlich ein Neubau sei, „an sich nicht zu teuer“ wäre.

Nun sollte „unter allen Umständen nach dem Schuldigen gesucht“ werden. Eine Vielzahl von Erklärungen wurde abgegeben. In der Aufgeregtheit gelang es nicht, einen praktikablen Beschluss zu fassen. Oberbürgermeister Linder stellte fest, dass „bei Krankenhausbauten eine ganze Reihe anderer Städte mit derartigen Überschreitungen“ zu rechnen gehabt hätten. Er stellte sich vor Sprotte: „Es geht nicht an, einfach in Bezug auf den Baurat, der 18 Jahre im Amt ist, zu sagen: weg mit ihm!“

Zum Ende des Jahres 1927 fand man den Weg aus der Finanzkrise, indem der Bau des Krankenhauses fortgeführt, die zweite große Baustelle, die Schule am Turnplatz und andere Vorhaben aber zeitweise stillgelegt werden sollten. Hierzu forderte man vom Bauamt nun einen „genauesten Kostenvoranschlag“, der acht Tage vor der nächsten Sitzung vorzulegen sei. Damit beruhigten sich die Wellen der öffentlichen Erregung und die beiden großen Bauvorhaben der Stadt wurden kurz nacheinander zu Ende gebracht.

Nachdem im Mai 1929 die Arbeiten am Krankenhausbau fertig gestellt waren, hatten sich die Baukosten einschließlich der Finanzierungskosten auf 2,025 Mill. Mark summiert. Von einem Versagen Sprottes war nichts mehr zu lesen. Er muss sich aber doch sehr schwer getroffen gefühlt haben. Mit einem Brief an die Stadtverordnetenversammlung, die er über ein Jahr lang gemieden hatte (so weit sich das nachvollziehen lässt), verlangte er die Zurücknahme der gegen ihn erhobenen Vorwürfe, die Versammlung ging aber nach der Verlesung des Briefes zur Tagesordnung über. Sprotte hat es hingenommen.

Der Krankenhausneubau bildet zusammen mit dem Altbau auch heute noch ein eindrucksvolles Ensemble. Da der Altbau im Stil der märkischen Backsteingotik aufgeführt war, hatte Sprotte den Neubau ebenfalls als Backsteinbau mit unaufdringlich modernerer Gestaltung entworfen. Diese Gebäude sind heute um so mehr als Einheit zu erkennen, da die in der jüngeren Zeit hinzugetretenen Erweiterungen rücksichtslos ohne jeden stilistischen Bezug oder den Versuch einer architektonischen Gliederung dazugesetzt worden sind.

Vor dem Eingangsbereich fand noch im Jahr der Fertigstellung eine Mädchenstatue des Rathenower Bildhauers und Malers W. H. Lippert ihren Platz. Sie hat an dieser Stelle die folgenden Jahrzehnte überdauert, an deren Schrecknisse damals noch niemand zu glauben gewagt hätte. Es bleibt zu wünschen, dass ihre noch nicht geheilten Kriegsschäden endlich eines Tages behoben werden können.

Ein Leben für die Stadt Rathenow

Am 11. Dezember 1931 erschien überraschend die Nachricht vom Tod des Oberbaurats Sprotte in der Rathenower Zeitung. Nur wenige wussten von seiner Erkrankung, die ihn seit einigen Wochen gehindert hatte, im Bauamt zu arbeiten. Ein Magistratsbote musste regelmäßig die Unterschriftsmappen bringen.

Ein Arbeitsleben war abrupt abgebrochen.

Sprotte hatte sich kompromisslos der Arbeit für Rathenow verschrieben – der Stadt, die gerade zwischen dem ländlichen Arendsee in der Altmark und Berlin lag. Aus Arendsee stammte seine Mutter, die unerschütterlich und in harter Arbeit ihren Sohn den Weg in das Leben geführt hatte. In Arendsee hat Sprotte seine Jugendjahre verlebt und gewiss hat er in dieser Zeit das Wesen der Mark in sich aufgenommen, weshalb er sich in Rathenow heimisch fühlen konnte. In Berlin, der Stadt, aus der sein Vater stammte, erwarb er das Rüstzeug für seinen Beruf, den er als Architekt und Bauingenieur mit Begeisterung ausgeübt hat. Er war stolz darauf und er durfte es sein.

Das Schicksal hatte ihn mit dem Oberbürgermeister Lindner zusammengeführt, der als Kommunalpolitiker ein kongenialer Partner für Sprotte war. Betrachtet man die Bautätigkeit in Rathenow in der Zeit von 1909 bis 1931, so kann man sich das Wirken des Einen nicht ohne das Wirken des Anderen vorstellen. Sie bedingten sich in ihrer Arbeit gegenseitig.

Bei seiner Amtseinführung hatte sich Sprotte mit den Worten vorgestellt:

„… Ich verspreche Ihnen, dass ich meine Stellung nicht sobald zu verlassen gedenke, um mich nach einem anderen Amte umzusehen. Ich gedenke, in Rathenow einige sichtbare Zeichen meiner Tätigkeit zu hinterlassen …“

Er hat Wort gehalten.

Der Verfasser, Prof. Dipl.-Ing. Hans Müller, ist ein Enkel von J. Fr. Sprotte.

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